„Vertriebene wollen Geschichte nicht umschreiben“ / BdV-Präsidentin
Steinbach begrüßte kontroverse Debatte um Flucht und Vertreibung
Bayreuth. Das Verständnis für die Schicksalsthemen Flucht und
Vertreibung in der Bevölkerung ist heute wesentlich ausgeprägter als noch vor wenigen
Jahren. Darauf hat die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen Erika
Steinbach bei einer Vortragsveranstaltung in Bayreuth hingewiesen. Die
Vertriebenen wollten die Geschichte auf keinen Fall umschreiben, sagte
Steinbach. Allen Betroffenen sei bekannt, dass ihrem Schicksal
Grauenhaftes vorausgegangen war. Dennoch dürfe das Geschehen nicht eindimensional
dargestellt werden. Fakt sei auch, dass sämtliche Vertriebene, vom
Säugling bis zum Greis, in Kollektivschuld genommen worden seien und nicht die
persönliche Schuld, sondern die geographische Lage ihrer Heimat über die
Vertreibung entschieden hatte. Dennoch stünden die Heimatvertriebenen
von Anfang an laut ihrer Charta für ein Miteinander statt für ein
Gegeneinander und somit auch für ein friedliches und vereinigtes Europa.
Steinbach zog bei der Veranstaltung in Bayreuth ein positives Fazit über
die bisherige Tätigkeit der maßgeblich von ihr mitinitiierten und
gegründeten Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. Durch die kontroversen
Debatten, die damit entfacht worden seien, habe man ein lebhaftes Interesse an den
Themen Flucht und Vertreibung angestoßen. Mehr als 50000 Berichte und
Pressereaktionen habe man damit ausgelöst. Rund 500 Gemeinden und
zahlreiche Bundesländer, darunter der Freistaat Bayern, seien bereits Paten der
Stiftung, die mit dem Dirigenten Christian Thielemann auch einen
prominenten Fürsprecher und Mitstreiter habe. Ohne die Stiftung gebe es auch keine
Koalitionsvereinbarung, der zufolge in Berlin ein „Erinnerungs- und
Dokumentationszentrum zur Flucht und Vertreibung“ mit Dauerausstellungen
und wissenschaftlichen Forschungsstätten eröffnet werden soll. Bundesweit
sei jede vierte Familie von Flucht und Vertreibung betroffen, sagte die
BdV-Präsidentin, deshalb sei diese dauerhafte Einrichtung auch für
kommende Generationen enorm wichtig.
Trotz aller öffentlichen Auseinandersetzungen um ihre Person sei sie,
was die Einrichtung des Zentrums angehe, „bester Dinge, guten Mutes und
energisch dabei“, sagte Steinbach. Die Nominierung der BdV-Präsidentin
für einen Sitz im Beirat der Stiftung war vor allem vom Nachbarland Polen
heftig kritisiert worden. Der Bundesverband hatte deshalb die Nominierung
zurückgezogen und den Sitz im Stiftungsrat demonstrativ unbesetzt
gelassen. Diese „Politik des leeren Stuhls“ bezeichne der parlamentarische
CSU-Landesgruppengeschäftsführer, Bayreuther Bundestagsabgeordnete und
frühere BdV-Generalsekretär Hartmut Koschyk als kluge politische Geste.
Die Heimatvertriebenen hätten bis heute nicht verstanden, warum das
Nachbarland Polen so „harsch, verletzend und verunglimpfend“ auf die Verwirklichung
der Stiftungsidee und die Nominierung Steinbachs für den Beirat reagiert
haben. Koschyk gab dabei auch die erste wichtige Personalentscheidung der
Stiftung bekannt: Demnach soll Professor Manfred Kittel vom Institut für
Zeitgeschichte in München Direktor der Stiftung werden.
Flucht und Vertreibung umfassend dokumentiert / Vertriebenenpräsidentin
Steinbach besuchte Lastenausgleichsarchiv in Bayreuth
Bayreuth. Der umfangreiche Bestand des Lastenausgleichsarchivs in
Bayreuth soll schon bald unter dem Dach der neuen Stiftung „Flucht, Vertreibung,
Versöhnung“ der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Entsprechende
Initiativen kündigte die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (BdV)
am Mittwoch bei einem Besuch des Bundeslastenausgleichsarchivs in Bayreuth an.
Archivdirektor Ulrich Ringsdorf bezifferte dabei die Kosten für eine
zeitnahe Realisierung dieses Vorhabens auf rund 1,2 Millionen Euro.
Gemessen an der Bedeutung eines solchen Schrittes sei dies ein überschaubarer
Kostenaufwand, sagte der parlamentarische CSU-Landesgruppengeschäftsführer
und Bayreuther Bundestagsabgeordnete Hartmut Koschyk, auf dessen
Einladung BdV-Präsidentin Steinbach in das Bundesarchiv gekommen war.
Nach den Plänen Steinbachs soll künftig nicht nur von dem geplanten
Erinnerungs- und Dokumentationszentrum zu Flucht und Vertreibung auf das
Bayreuther Archiv zugegriffen werden können, sondern auch online. Damit
könnte jeder Interessierte den wahren Schatz an Material, der in
Bayreuth vorhanden ist, einsehen“, sagte die BdV-Präsidentin. Dadurch würde aber
auch ein wichtiger kulturpolitischer Akzent gesetzt, so Koschyk, der lange
Jahre als Generalsekretär des Bundes der Vertriebenen tätig war. Bei den
Materialien gehe es um Dokumente, die die Schicksale von Millionen
Menschen betreffen. Um die Erinnerung an Flucht und Vertreibung wach zu halten,
sollte der Bayreuther Bestand der Öffentlichkeit auch online zugänglich
gemacht werden.
Weit über drei Millionen Akten auf 36 Regalkilometern, 22 Millionen
Karteikarten des kirchlichen Suchdienstes, rund 350000 Fotografien und
8000 historische Landkarten dokumentieren in Bayreuth von der Öffentlichkeit
kaum wahrgenommen eindrucksvoll ein dunkles Kapitel der Geschichte. Das
Archiv beeindruckt nicht nur durch diese Zahlen, sondern auch durch seine
weitreichende Bedeutung für die Geschichtsschreibung ganz Deutschlands.
„Wir dokumentieren mit einer Masse von Schriftgut das geschichtliche Ereignis
von Flucht und Vertreibung“, erläuterte Archivdirektor Ringsdorf.
Der sperrige Name Lastenausgleicharchiv kommt nach den Worten Ringsdorfs
von den derzeit etwa 3,2 Millionen Akten aus dem so genannten
Lastenausgleich.
Dabei handelt es sich um die Unterlagen von Vertriebenen aus den
ehemaligen deutschen Ostgebieten, die Ausgleichszahlungen erhalten hatten. In den
Akten enthalten seien unter anderem Grundbuchauszüge, Pläne und Fotos, die
sämtliche Besitz- und Lebensverhältnisse der Menschen umfassend
dokumentieren. „Eigentlich müsste unsere Einrichtung Bundesarchiv für
Flucht und Vertreibung heißen“, sagte Ringsdorf, denn mit dem Namen
Lastenausgleichsarchiv könnten die wenigsten Menschen etwas anfangen.
Zweiter wesentlicher Baustein der Archivarbeit seien die Heimat- und
Ortskarteien der Kirchen aus dem ehemaligen Ostpreußen, Pommern, Ober-
und Niederschlesien sowie einiger anderer Gebiete. Der Archivleiter gab zu
bedenken, dass 1945 jeder fünfte Deutscher ein Suchender oder ein
Gesuchter gewesen sei und noch heute jeder vierte Oberfranke einen
Vertreibungshintergrund habe. Mit den Karteikarten besitze das Archiv
eine Art Einwohnermeldeamt des ehemaligen deutschen Ostens. Neben den
genannten Dokumenten beherbergt das Archiv außerdem auf rund 10000
Zeitzeugenberichte, 18000 Fragebögen und 6000 Berichte von Amtsträgern wie Kirchenmännern,
Lehrern oder Bürgermeistern. Sie alle haben eines gemeinsam, sie
spiegeln die Situation der Flüchtlinge und Vertriebenen detailliert wider.
Das Lastenausgleichsarchiv hatte 1989 seine Arbeit in Bayreuth
aufgenommen und 1996 sein jetziges Domizil in den Räumen des ehemaligen Städtischen
Krankenhauses bezogen. Dort und in einem angrenzenden Archivneubau wird
das gesamte Schriftgut auf einer Fläche von fast 6000 Quadratmeter unter
klimatisch optimalen Bedingungen archiviert.
BdV-Präsidentin Steinbach sprach nach ihrem Besuch von einer
phänomenalen Sammlung und einer wahren Fundgrube, die sich mit dem riesigen Archiv in
Bayreuth befinde. Sie kündigte außerdem an, die aktuelle Ausstellung des
Bundes der Vertriebenen zur Siedlungsgeschichte der Deutschen nach
Bayreuth zu bringen und in den Räumen des Archivs zu zeigen.