[20.06.2009] - Feuilleton - Gerald Schubert
Zeihsels Zusammenfassung
Diese Woche bekam die Deutsche Redaktion von Radio Prag wieder einmal Post
aus Wien. Gerhard Zeihsel, der Bundesobmann der Sudetendeutschen
Landsmannschaft in Österreich, verschickte eine Presseerklärung zum
Jahrestag der Auslöschung des Dorfes Lidice. Lidice war im Juni 1942 von
den nationalsozialistischen Besatzern dem Erdboden gleichgemacht worden,
als „Vergeltung“ für die Ermordung des stellvertretenden
Reichsprotektors Reinhard Heydrich in Prag.
Das Attentat gegen Heydrich sei von der tschechoslowakischen Exilregierung
in London „kaltblütig geplant“ worden, schreibt Zeihsel. Ein Attentat
im ansonsten offenbar ruhigen und friedfertigen Protektorat, wie es
scheint. Zeihsels Text beginnt nämlich mit dem folgenden Satz:
„Die Lage der Tschechen auf ihrem nationalen Gebiet im Protektorat
Böhmen und Mähren in den Jahren 1939 – 1945 war zusammenfassend gesehen
dadurch gekennzeichnet, dass bei Befolgung der oft sehr weitgehenden Gebote
der deutschen Besatzung und bei politischer Abstinenz nur geringe
persönliche Gefahr für Leib und Leben bestand.“
Das ist zunächst einmal schwammiges Deutsch. Was meint Zeihsel mit
„weitgehenden Geboten“? Deutsche Anordnungen, die in alle
Lebensbereiche der tschechischen Bevölkerung vordrangen? Oder doch eher
weitgehende Freiheiten? Freiheiten lassen sich aber nur schwer befolgen,
also müssen die „weitgehenden Gebote“ her – eine fast schon
traumhaft originelle sprachliche Wendung.
Doch sehen wir uns die Sache von der inhaltlichen Seite her an: Ja, auch
in Tschechien werden Diskussionen darüber geführt, inwieweit die Londoner
Exilregierung unter Edvard Beneš die erwarteten Vergeltungsaktionen der
Nazis bewusst in Kauf nahm – quasi als Kapital des Schreckens in den
Verhandlungen mit den Alliierten nach Kriegsende. Es ist nicht verboten,
über diese Fragen nachzudenken. In Deutschland nicht, in Österreich
nicht, und auch nicht in Tschechien. Es sind Fragen, die zum Beispiel auch
jene Sudetendeutschen interessieren, die nach dem Zweiten Weltkrieg als
Kinder vertrieben wurden und jetzt als Rentner wieder nach Tschechien
kommen. Nicht, um irgendwelchem verlorenem Eigentum nachzutrauern, sondern
um auf den Spuren ihrer Vergangenheit zu wandeln. Einfach so,
aufgeschlossen, ausgeglichen und ohne eine Spur von Bitterkeit.
Es könnte aber auch das unscheinbare Wort „zusammenfassend“ sein, das
in Zeihsels Zeilen besonders stört:
„Die Lage der Tschechen auf ihrem nationalen Gebiet im Protektorat
Böhmen und Mähren in den Jahren 1939 – 1945 war zusammenfassend gesehen
dadurch gekennzeichnet…“ usw.
Vielleicht sollte eine Zusammenfassung der Lage im Protektorat auch das
Schicksal der jüdischen Bevölkerung erwähnen, all jene Menschen, die
etwa in Theresienstadt ermordet oder von dort in Vernichtungslager
abtransportiert wurden. Aber zur offenen Diskussion braucht man Mut. Und
wer schon im ersten Satz zusammenfasst, der will vielleicht gar nicht
mitdiskutieren.
Source: Czech Radio 7, Radio Prague
URL: http://www.radio.cz/de/artikel/117470
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