[25.04.2009] - Kapitel aus der Tschechischen Geschichte - Till Janzer
Flucht vor Hitler: Emigration der sudetendeutschen Sozialdemokraten 1938/39
Obwohl viele Menschen in den Sudetengebieten über den Einmarsch Hitlers im
Oktober 1938 gejubelt haben – es gab auch die anderen: Zehntausende
Menschen flohen vor den Nazis. Neben Juden waren es Mitglieder
demokratischer Parteien, unter ihnen Sozialdemokraten. Für sie führte der
Weg meist zuerst in die tschechoslowakischen Kerngebiete und danach ins
Ausland. Erstaunlich ist, dass über die Emigrationsbewegung der
Sozialdemokraten zwischen Oktober 1938 und März 1939 wenig bekannt ist.
Dieser Beitrag soll ein wenig Licht in dieses Kapitel der tschechischen
Geschichte bringen.
Als Konrad Henlein, der Vorsitzende der Sudetendeutschen Partei, Anfang
Oktober 1938 den Einmarsch der Wehrmacht in die Sudetengebiete begrüßt,
ist die politische Linke meist schon auf der Flucht - so wie der Vater von
Olga Sippl, Mitglied der DSAP, der „Deutschen Sozialdemokratischen
Arbeiterpartei der Tschechoslowakischen Republik“. Ziel der Flucht ist
für ihn wie für die anderen zunächst das noch freie Rest-Gebiet der
Tschechoslowakei. Olga Sippls Vater verlässt das heute zu Karlsbad
gehörende Porzellanindustriestädtchen Altrohlau noch im September 1938:
„Kurz vor der Abtretung ist mein Vater durch die tschechische
Gendarmerie bewogen worden, einen der letzten Züge ins Innere Böhmens zu
nehmen. Die Gefahr der Verfolgung, vor allem durch die
nationalsozialistischen Jugendlichen, war zu groß.“
Das, weil Olga Sippls Vater damals Schulwart in der Volksschule war. Nicht
nur er war aber rechtzeitig gewarnt worden. Die Nachricht, dass die
Sudetengebiete abgetreten werden, erreicht die sozialdemokratische
Parteiführung bei einem außerordentlichen Kongress in Prag. Noch einmal
Olga Sippl:
„Dort wurde bereits entschieden, dass ein Teil in die Emigration gehen
wird und gehen muss. Die deutsche und die österreichische Emigration von
1933 und 1934 hatte zum großen Teil in den Arbeitergemeinden des
Sudetenlandes Zuflucht gefunden, und daher wussten wir über das Dritte
Reich Bescheid – mehr zumindest als zuvor die Reichsdeutschen oder
Österreicher. Deshalb haben wir uns keinerlei Illusionen hingegeben, dass
man als leitender Funktionär oder bekannter Sozialdemokrat ungeschoren
davonkommt.“
Historiker Thomas Oellermann beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den
sudetendeutschen Sozialdemokraten. Die Emigration sei in drei Wellen
verlaufen, so Oellermann. Die erste beginnt noch im Oktober 1938.
„Dabei werden die wohl am stärksten gefährdeten Sozialdemokraten
außer Landes gebracht – und das größtenteils nach Großbritannien. Die
DSAP hatte vorher schon sehr gute Kontakte zur Labour Party oder auch zur
so genannten Independent Labour Party, und über diese Kontakte gelingt es,
eine nicht so zahlreiche Gruppe - etwa 70 Personen – nach Großbritannien
zu bringen“, sagt Thomas Oellermann.
Die zweite Welle startet im November 1938 und erfolgt aus dem restlichen
Teil der Tschechoslowakei, bis auch dieser am 15. März 1939 durch
Hitler-Deutschland besetzt wird. Die sudetendeutschen Sozialdemokraten sind
dort in teils improvisierten Flüchtlingslagern untergebracht. Es ist eine
geplante Emigration, die Zielländer sind über die ganze Welt verteilt:
Kanada, Schweden, Südamerika oder Israel und bis zur Besetzung auch
Belgien. In Prag hat die sozialdemokratische Parteiführung eine
Auswanderungsstelle eingerichtet. Olga Sippl arbeitet bereits seit Mai 1938
in Prag bei der Zentralen Sozialversicherung als Stenotypistin. Als die
Auswanderungsstelle entsteht, hilft sie nach Büroschluss dort mit:
„Schon Anfang Oktober“, so Sippl,
„begann die Parteiführung die
gesamte Maschinerie in Bewegung zu setzen, man wusste ja nicht, wie viel
Zeit bleiben würde. Man begann also einerseits Visa zu besorgen und auf
der anderen Seite Geld. Dafür wurden die ganzen Parteigelder flüssig
gemacht. Die waren in der Genossenschaft und anderswo angelegt worden. Die
Menschen hatten ja kaum Geld und nur wenige konnten sich die eigene
Ausreise leisten. Und so wurde also Tag und Nacht gearbeitet, um die Listen
der Emigranten zu erstellen und die notwendigen Pässe und Unterlagen zu
besorgen.“
Einer jener, der Papiere erhält ist Otto Seidl. Er war 1927 der DSAP
beigetreten:
„Nach einigen Monaten Flüchtlingslager gelang es uns doch, eine
Bewilligung zu bekommen und einen Pass, um nach Schweden ausreisen zu
können. Das geschah legal mit Visum und allem, sonst kam man nicht aus dem
Land, sonst wäre man der Gestapo überall in die Hände gefallen, in
Deutschland und Österreich. Wir durften dann über Mährisch-Ostrau durch
den polnischen Korridor mit dem Zug nach Danzig fahren. Dort fuhren wir mit
einem schwedischen Zug über Lettland nach Stockholm, wo wir am 24.
Dezember 1938 mit dem Schiff ankamen.“
Otto Seidl ist der letzte Zeitzeuge aus der damaligen Emigrationswelle
sudetendeutscher Sozialdemokraten nach Schweden. Um die Parteimitglieder in
Skandinavien oder anderswo unterzubringen, waren jedoch schwierige
Verhandlungen nötig. So wurde Großbritannien die wichtigste Station, wie
Thomas Oellermann sagt:
„Die Aufnahmekapazitäten der Länder waren begrenzt, zumal es auch
weitere Flüchtlingsgruppen gab. Man weiß, dass etwa 3000 sudetendeutsche
Sozialdemokraten nach England kamen, von denen dann 1000 weiter zogen nach
Kanada. Es dürften noch weitere Sozialdemokraten in andere Länder
gegangen sein. Das ist aber wahrscheinlich nur ein kleinerer Teil.
Insgesamt lässt sich sagen, dass ungefähr 2000 sudetendeutsche
Sozialdemokraten während des Krieges in England im Exil waren.“
Doch längst nicht alle gefährdeten Sozialdemokraten werden ins Ausland
gebracht. Dazu kommt die Besetzung der restlichen Tschechoslowakei zu
früh.
„Alle Lager mussten so schnell wie möglich geräumt werden“, erzählt
Olga Sippl. „Die Menschen wurden versteckt, es waren vor allem Frauen mit
Kindern, die Familienangehörigen der Funktionäre. Dafür verantwortlich
waren vor allem Engländerinnen. Eine davon war Doreen Warriner. Sie hat in
Gasthäusern im Umkreis von Prag eine ganze Menge Frauen mit Kindern
versteckt. Und sie hat die Mittel dafür aufgebracht, um diese noch mit dem
letzten Transport über Polen hinausschaffen zu können.“
Es ist die letzte und dritte Emigrationswelle der sudetendeutschen
Sozialdemokraten aus der Tschechoslowakei. Historiker Oellermann:
„Diese Emigrationswelle verläuft im direkten Anschluss an die Besetzung
des tschechoslowakischen Reststaates im März 1939. Die Flucht gelingt nur
unter sehr turbulenten Bedingungen. Zu den Emigranten gehört auch der
letzte Parteivorsitzende der DSAP, Wenzel Jaksch. Er flieht auf Skiern
über die polnisch-slowakische Grenze und findet über Polen den Weg nach
Großbritannien.“
Doch viele Menschen bleiben zurück. 1938 hatte die DSAP insgesamt 80.000
Mitglieder. Über 10.000 werden von den Nazis verhaftet und landen im KZ
oder in Gefängnissen. Den Eltern von Olga Sippl gelingt mit dem kleinen
Bruder die Flucht nach Großbritannien, doch ihr selbst nicht. Als
Familienangehörige galt sie nicht mehr, da sie bereits über 18 Jahre alt
war.
„Nachdem das so knapp wurde und ich bis zum 8. März keinerlei
Zusicherung hatte, dass ich emigrieren konnte, habe ich mich entschieden,
nach Karlsbad zurückzukehren“, schildert Olga Sippl.
In Karlsbad wohnt sie den Krieg über bei ihrer Großmutter. Sie arbeitet
in einem Betrieb, in dem sie vor einer drohenden Verhaftung relativ sicher
ist – und sagt:
„Ich hatte einen Schutzengel und ich habe großes Glück gehabt, dass
ich im Dritten Reich außer einigen Schikanen gut über die Runden kam.
Aber dafür hat man den jüngeren Bruder meines Vaters vier Jahre ins
Zuchthaus geschickt unter dem Vorwand des Radio-Fremdhörens.“
Die Familie Sippl hat überlebt. Heute gehört Olga Sippl der
Gesinnungsgemeinschaft sudetendeutscher Sozialdemokraten an, der
Seliger-Gemeinde, die nach dem Krieg in der Bundesrepublik gegründet
wurde.
Source: Czech Radio 7, Radio Prague
URL: http://www.radio.cz/de/artikel/115671
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