[06.12.2008] - Kapitel aus der Tschechischen Geschichte - Jakub Siska
Die Entstehung der Tschechoslowakei und die religiöse Wende der Gesellschaft
Die Entstehung der Tschechoslowakei vor 90 Jahren war nicht nur eine
politische Wende, sondern erschütterte auch das geistliche Leben. Das
religiöse Empfinden der Tschechen erlebte in der Zwischenkriegszeit eine
interessante Entwicklung, deren Konsequenzen bis heute deutlich spürbar
sind.
Die öterreichisch-ungarische Monarchie, unter deren Herrschaft die
Tschechen bis 1918 lebten, war eng mit der katholischen Kirche verbunden.
An den Schulen gab es katholischen Pflichtunterricht, die Kirche verfügte
über die so genannten Matriken, also Personenstandsbücher über Geburt,
Trauungen und Sterbefälle und die kirchlichen Würdenträger galten als
eine verlängerte Hand der staatlichen Macht. Andere Glaubensgemeinschaften
wurden nur in beschränktem Rahmen erlaubt. Je weniger die Monarchie unter
den Tschechen beliebt war, desto größer wurde der Widerstand gegen die
Kirche. Kein Wunder, dass sich dies in den Tagen von Revolution und
Staatsgründung im Jahr 1918 äußerte, sagt der Prager Historiker Jaroslav
Šebek:
„Das bekannteste Symbol der Auflehnung war die Zerstörung der
mächtigen Mariensäule auf dem Altstädter Ring in Prag, wenige Tage nach
dem Untergang der Monarchie. Dieses Denkmal wurde von den Leuten
fälschlicher Weise als Sinnbild der Niederlage der böhmischen
Protestanten im Jahr 1620 wahrgenommen. In Wirklichkeit bezog sich die
Säule auf die erfolgreiche Verteidigung von Prag gegen die schwedischen
Truppen im Jahr 1648. Nach dem Abriss der Mariensäule auf dem Altstädter
Ring kam es zu einer regelrechten Zerstörungswelle: Sie richtete sich vor
allem gegen die Statuen des Johann Nepomuk - einem Heiligen, der besonders
zur Zeit der Rekatholisierung verehrt wurde. Diese Statuen wurden am
häufigsten zerstört nach dem Jahr 1918.“
Die religiöse Erschütterung hängt jedoch auch mit der inneren Krise der
katholischen Kirche zusammen. Bereits im Lauf des 19. Jahrhunderts
verstanden viele Tschechen ihre konfessionelle Zugehörigkeit als reine
Formalität, und dieser Prozess erreichte nach dem Ersten Weltkrieg seinen
Höhepunkt. Ungefähr eine Million Menschen traten aus der katholischen
Kirche aus, ohne aber eine neue religiöse Heimat zu finden - sie wurden
also bekenntnislos. Weitere Katholiken gründeten neue
Glaubensgemeinschaften: 1920 entstand zum Beispiel eine nationale
tschechoslowakische Kirche, die später nach dem mittelalterlichen
Reformator Jan Hus benannt wurde.
„In dieser Bewegung standen zwei Gruppen gegeneinander: Die erste sah in
der Orthodoxie ihr Vorbild, während die zweite eher zur evangelischen
Tradition neigte. Letztere Richtung setzte sich schließlich durch. Es
entstand eine ganz neue Theologie, die sogar über die Grenzen des
christlichen Glaubens hinausging: Sie behauptete zum Beispiel, dass Jesus
Christus nicht Sohn Gottes sei. Die tschechoslowakische Kirche versuchte
also, protestantische Tradition mit liberalen Gedanken zu mischen. Das
erwies sich aber bald als falsch. Es gelang ihr auch nicht, Kontakte zu
anderen Religionsgemeinschaften, beispielsweise zur evangelischen
Böhmischen Brüderkirche, zu knüpfen“, erläutert Historiker Jaroslav
Šebek.
Die evangelische Tradition wird heutzutage vor allem gerade von den
böhmischen Brüdern repräsentiert. Ihre Kirche entstand ebenfalls nach
dem Ersten Weltkrieg und vor kurzem feierte sie ihr 90-jähriges Bestehen.
Die Böhmische Brüderkirche war und ist nur eine kleine
Religionsgemeinschaft im Land. Dennoch gehört sie heute zu den etablierten
evangelischen Kirchen Europas, meint Religionsforscher Pavel Hošek.
„Die tschechische evangelische Brüderkirche ist eine typische
Minderheitskirche - ihr gehört nur ungefähr ein Prozent der gesamten
Bevölkerung an. Auf das geistliche Leben der Protestanten wirkt sich das
jedoch positiv aus: Sie legen großen Wert auf Bildung und sind bestrebt,
als Lehrer, Juristen, Psychologen oder Journalisten tätig zu sein. Die
Kirche betreibt auch mehrere Verlage und Schulen sowie die evangelische
Fakultät an der Prager Karlsuniversität. Und sie betreibt
Wohltätigkeitsorganisationen, die von der Öffentlichkeit sehr geschätzt
werden. Das alles trägt dazu bei, dass der gesellschaftliche Einfluss der
Böhmischen Brüderkirche größer ist, als es der Zahl ihrer Angehörigen
entspricht.“
Aber zurück in die Geschichte: Eine wichtige Rolle in der
antikatholischen Bewegung nach dem Ersten Weltkrieg spielte auch der erste
tschechoslowakische Präsident Tomáš Garrique Masaryk. Er hatte den
Austrokatholizismus und die übermäßige Macht der Kirche immer wieder
kritisiert. Diese Meinung fasste er in die Worte: „Jesus ja, Caesar
nicht“. 1925 kam es sogar zum Konflikt mit dem Vatikan, weil Präsident
Masaryk eine hussitische Fahne auf der Prager Burg hissen ließ. Papst Pius
XI. berief darauf seinen Nuntius aus der Tschechoslowakei ab. Damit
erreichte der Konflikt mit der Katholischen Kirche seinen Höhepunkt.
Jaroslav Šebek:
„Gegen die Katholische Kirche kämpfte in den ersten Jahren der
Tschechoslowakei die Mehrheit der politischen Elite: am stärksten die
Nationalen Sozialisten, Sozialdemokraten und Kommunisten. In der
Öffentlichkeit gewannen aber bald andere Themen an Bedeutung und die
Situation beruhigte sich. Ein paar Monate nach dem Konflikt mit Vatikan
fanden Parlamentswahlen statt, in denen die bürgerlichen Parteien siegten.
Großen Einfluss erhielt damals auch die von dem katholischen Priester Jan
Šrámek geleitete Volkspartei, die bis 1938 eine der wichtigsten
politischen Kräfte war.“
Ein nächster wichtiger Schritt beim Abbau der antikatholischen Tendenzen
war das Jahr 1929. Damals stand die 1000-Jahresfeier des tschechischen
Nationalheiligen Sankt Wenzel an. Die Feier organisierten Staat und Kirche
gemeinsam, und es nahmen etwa 600.000 Gläubige daran teil - sowohl
Tschechen, als auch Slowaken, Deutsche, Ungarn und Ruthenen. Mit dieser
Feier werden auch die Katholiken wieder ein wohl beachteter Bestandteil der
tschechischen Gesellschaft. Das gab der Katholischen Kirche einen Anstoß
zu einem gewissen Wandel im Innern:
„Besonders in den Klostergemeinschaften startet die so genannte Bewegung
der geistlichen Erneuerung. In dieser Umgebung wird eine neue katholische
Identität aufgebaut: statt Widerstand gegen Demokratie und Liberalismus
wird überlegt, wie die Kirche in einer freien Gesellschaft sprechen soll
und was sie ihr anbieten kann. Katholische Literatur entsteht, es
erscheinen katholische Zeitschriften, es werden zahlreiche
Jugendgemeinschaften gegründet. Zu den aktivsten Persönlichkeiten in
diesem Bereich gehört der bekannte Benediktinerabt Anastaz Opasek, der
später in der kommunistischen Zeit viele Jahre gefangengehalten wurde. Die
Kirche gewann auch viele neue Mitglieder unter den Studenten und
städtischen Intellektuellen - also in den Schichten, die die Kirche in den
Jahren zuvor eher verloren hatte“, so der Historiker Jaroslav Šebek.
Das positive Verhältnis zwischen der Katholischen Kirche und der
bürgerlichen Gesellschaft in der Tschechoslowakei hielt, bis 1948 die
Kommunisten an die Macht kamen. Während der 40-jährigen atheistischen
Propaganda im Kommunismus sank die Zahl der Gläubigen stark und
verschiedene alte Vorurteile kamen wieder zum Vorschein. Prozentzahlen
katholischer Glauben - Heute sind in der tschechischen Gesellschaft
atheistische Tendenzen weit verbreitet.
Source: Czech Radio 7, Radio Prague
URL: http://www.radio.cz/de/artikel/110999
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