[01.11.2008] - Kapitel aus der Tschechischen Geschichte - Till Janzer
„Dann fielen zwei Schüsse“ – Zeitzeugen berichten im Internet
„Paměť národa“, auf Deutsch „Erinnerung des Volkes“ – so
heißt eines der weltweit größten Zeitzeugen-Projekte im Internet. Es
wurde diese Woche frei geschaltet. Das Projekt wurde in Tschechien
entworfen, soll im kommenden Jahr gesamteuropäisch werden und steht
interessierten Laien sowie Fachleuten zur Verfügung. Auf den Webseiten
sind die Aussagen von mehreren hundert Menschen zu finden, die über ihr
Schicksal während der Nazi-Herrschaft, des Zweiten Weltkriegs oder des
Kommunismus erzählen. Viele sind bewegende Geschichten, in denen sich die
Verwerfungen des vergangenen Jahrhunderts spiegeln.
„Im August 1942 bekam ich eine Vorladung zum Transport und die Nummer 63
um den Hals. Jeder musste mit einem 50 Kilo schweren Koffer in den Prager
Industriepalast kommen. Dort waren auf dem Boden mit Kreide Quadrate
eingezeichnet, die Ziffern hatten. Jeder wusste also, wo er sich hinsetzen
musste. Das dauerte drei Tage. Jeder musste dann unterschreiben, dass er
sein Eigentum freiwillig den Deutschen überlässt, und übergab den
Hausschlüssel. In den Personalausweis erhielten wir ein ´J´
eingestempelt - für Jude. Auf diese Weise sammelten sie Tausend Leute und
führten sie um vier Uhr früh auf den Bahnhof in Bubeneč. Dann fuhren wir
nach Theresienstadt.“
So beginnt die Leidensgeschichte von František Kraus - mit dem Transport
ins KZ Theresienstadt. Ein Jahr später wird der Prager Jude nach Auschwitz
gebracht. Er überlebt aber die Vernichtungsmaschinerie der Nazis. Doch
frei bleibt František Kraus nicht wirklich lang. 1952 sperren ihn die
Kommunisten wegen des Verdachts auf Spionage ein. Im Prager Gefängnis
Ruzyně sitzt er erst einmal in Untersuchungshaft.
„In Ruzyně war ich ein Jahr lang – bis ich dort einen Selbstmord
versuchte. Ich bin mit dem Kopf gegen die Zentralheizung gerannt. Danach
ordnete der Arzt an, mir noch einen weiteren Gefangenen in die Zelle zu
geben. Sie steckten den Leiter der Gestapo aus Bratislava zu mir.“
František Kraus wurde dann zu 22 Jahren Gefängnis verurteilt. Er
versucht in Berufung zu gehen, doch vergebens. Nach sieben Jahren Haft
hält er es nicht mehr aus. Um vorzeitig entlassen zu werden, lässt er
sich vom tschechoslowakischen Geheimdienst StB als Agent anwerben. Bis zum
Ende des kommunistischen Regimes ist er Spitzel, zugleich steigt er im Rat
der jüdischen Gemeinden in der Tschechoslowakei bis zum Generalsekretär
auf.
Am Schicksal von František Kraus zeigt sich das ganze Drama des 20.
Jahrhunderts. Und genau das haben die Gründer der Webseite
www.pametnaroda.cz (auch: www.memoryofnation.eu.) im Sinn: die Geschichte
von Unrecht und Totalitarismus anhand von konkreten Schicksalen
darzustellen.
Initiiert hat die Webseite der Verein Post bellum – ein Zusammenschluss
von Historikern und Journalisten. Partner sind der Tschechische Rundfunk
und das Institut für das Studium totalitärer Regime. Vor acht Jahren
begann Post bellum Zeitzeugen-Aussagen zu sammeln. Anfangs konzentrierte
sich der Verein auf die Lebensgeschichten von Veteranen aus dem Zweiten
Weltkrieg.
„Dadurch ist ein ziemlich großes Projekt entstanden. Mittlerweile hat
Post bellum als Träger des Projekts etwa 800 Aufnahmen mitgeschnitten. Vor
zwei Jahren ist Mikuláš Kroupa, der Chef von Post bellum, dann auf die
Idee gekommen, ein Internet-Projekt zu gründen. Die Sammlung von
Zeitzeugen-Interviews bildet nun die Basis des Internetportals. Es sind
Aussagen von Kriegsveteranen, politischen Gefangenen aus den 50er Jahren,
Menschen, die die sowjetische Invasion von 1968 erlebt haben. Langsam
bewegen wir uns in der Zeit voran und kommen zu den jüngeren Zeitzeugen,
also denen aus den 70er und 80er Jahren“, sagt Ladislav Lindner-Kylar vom
Tschechischen Rundfunk.
Lindner-Kylar half dem Projekt mit auf die Beine und ist dort der
Web-Editor. Auf den Webseiten ist jeder Audio-Mitschnitt ergänzt durch
zeitgenössische Fotografien und die Lebensläufe der Zeitzeugen. Und weil
die Webseiten als europäisches Projekt gedacht sind, soll Englisch die
Hauptverkehrssprache des Internetportals werden. Mikuláš Kroupa, der
Leiter von Post bellum, erläutert:
„Die etwa 800 Aufzeichnungen oder Erinnerungen von Menschen, die den
Zweiten Weltkrieg erlebt haben, von politischen Gefangenen ab den 50er
Jahren oder von Geheimdienst-Agenten, sind auf Tschechisch. Und zwar die
Audio-Aufnahmen und die Texte dazu. Wir haben aber Auszüge aus den
Audio-Aufnahmen ins Englische übersetzt, dazu Texte wie Lebensläufe und
Anmerkungen.“
Bereits jetzt sind 15 Institutionen aus acht Ländern Partner bei dem
Projekt. Dazu gehören zum Beispiel die Brücke/Most-Stiftung aus Dresden
und die frühere Gauck-Behörde, heute umständlich Behörde des
Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der
ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik genannt. Ebenso dabei sind
Institutionen wie das Imperial War Museum aus London oder das Institut zur
Untersuchung der Verbrechen des Kommunismus in Rumänien. Sie haben sich
alle zusammengeschlossen zur – übersetzt - Europäischen Gemeinschaft
der Erinnerung. Und sie sollen sich aktiv am Ausbau der Sammlung an
Zeitzeugenaussagen beteiligen, wie Mikuláš Kroupa sagt:
„Wir rechnen damit, dass Anfang 2009 unsere Partner aus der
Europäischen Union die Webseiten mit ihren eigenen Zeitzeugen-Sammlungen
in den jeweiligen Sprachen ergänzen. Wir haben keine Absprache über die
genaue Zahl an Zeitzeugen-Aussagen, die wir in unser Projekt aufnehmen
wollen. Unsere Vorstellung ist jedoch, innerhalb der nächsten drei Jahre
rund 5000 solcher Interviews zu haben.“
Bereits jetzt gibt es aber eine kleine Anzahl an Aufnahmen in Deutsch. Es
sind die Aussagen von Deutschböhmen. Wie zum Beispiel von Erna Gudenrath,
die einen Mord während der wilden Vertreibung der Deutschen aus der
Tschechoslowakei in den ersten Monaten nach Ende des Zweiten Weltkriegs
schildert:
„Es war so: Wir waren in dem Haus und jemand ist gekommen mit der
Nachricht, dass Karl verhaftet worden wäre. Dann sind die zwei Kommissare
mit dem Karl bei uns vorbeigegangen, Karl hatte keine Schuhe mehr an und
sie sind schnurstracks auf den Berg hinaufgegangen. Dann fielen zwei
Schüsse. Und sie sind dann ohne Karl zurückgekommen.“
Aber die Macher wollen nicht nur, dass sich Interessierte über die
Schicksale der Menschen im 20. Jahrhundert informieren. Neue Fotos,
Tondokumente oder Informationen sind immer willkommen, egal ob sie von
einer wissenschaftlichen Institution, einer Schule, einer Einzelperson oder
anderen stammen. Dazu muss man nicht studierter Historiker sein, aber das
Material und sein Bereitsteller werden von den Verwaltern der Seiten
überprüft. Denn Geschichtsklitterung, das wäre das Letzte, was Paměť
národa im Sinn hat.
Source: Czech Radio 7, Radio Prague
URL: http://www.radio.cz/de/artikel/109894
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