[09.06.2008] - Tagesecho - Julia Nesswetha
Alt - Außenminister Genscher trifft Prager Schüler
Am vergangenen Freitag war der ehemalige deutsche Bundesaußenminister
Hans-Dietrich Genscher in der deutschen Botschaft in Prag zu Besuch. Vom
Balkon der Botschaft aus hatte er am 30. September ´89 den
DDR-Flüchtlingen verkündet, dass ihre Ausreise genehmigt sei. Eingeladen
waren zu diesem Treffen auch 30 Abiturienten des Geburtsjahrgangs 1989, die
verschiedene Prager Gymnasien mit besonderem Schwerpunkt Deutsch besuchen.
Prag, September 1989: Tausende DDR-Bürger flüchten in die Botschaft der
Bundesrepublik, der Botschaftsgarten gleicht einem Flüchtlingslager. Bis
Außenminister Genscher vom Balkon aus verkündet, dass die Ausreise der
mehr als 3000 Ostdeutschen in den Westen möglich geworden ist. Zur
Erinnerung an jene dramatischen Tage wurde nun in der deutschen Botschaft
im Prager Palais Lobkowicz der ARD-Dokumentarfilm „Fluchtpunkt Prag“
gezeigt, den sich Genscher gemeinsam mit geladenen Gästen und Schülern
ansah.
Der Film weckte Erinnerungen. Auch in Genscher. In seiner anschließenden
Rede sprach der Ex-Außenminister darüber, was ihm vom Abend des 30.
September 1989 besonders im Gedächtnis geblieben ist:
„Als ich die Treppe in der Botschaft hochgekommen bin, musste ich über
Menschen steigen, die auf den Treppen geschlafen haben. Sie waren sehr
apathisch, ihre Hoffnung war an einem Nullpunkt angelangt. Viele haben mich
gar nicht erkannt als ich hochging, weil sie damit gar nicht gerechnet
hatten. Diese Menschen – ob es nun dreieinhalb oder viertausend
Flüchtlinge waren, keiner wusste das so ganz genau - haben im Grunde
genommen Geschichte geschrieben: sie haben nämlich der Mauer den ersten
Schlag versetzt.“
Die Geschehnisse im Spätsommer und Herbst 1989 nennt Genscher „eine
europäische Freiheitsrevolution“, und er lässt keinen Zweifel daran,
dass für ihn die Mauer vom Osten her zum Einsturz gebracht wurde.
Rückblickend resümiert er:
„Ich glaube, dass sich in diesem 20. Jahrhundert, das hinter uns liegt,
mit zwei Weltkriegen, mit schrecklichen Erfahrungen, die Menschen in Europa
nie so nahe waren wie in diesem Herbst 1989. Und das müssen wir in unseren
Herzen bewahren und auch an unsere Kinder weitergeben. Europa wird es gut
gehen, wenn wir uns immer so nahe sind, wie wir es uns 1989 waren - dann
können wir dieses Schicksal übergeben.“
Auch die diesjährigen Abiturienten vom Thomas Mann Gymnasium, im Jahr des
Umbruchs 1989 geboren, zeigten sich beeindruckt von der Persönlichkeit
Hans-Dietrich Genschers. Sie hoben besonders hervor, dass Herr Genscher ein
sehr charismatischer Mensch sei, den vor allem sein Erzähltalent
auszeichne.
Erzähltalent kann man Genscher gewiss nicht absprechen - genauso wenig
wie seinen Anteil am Gelingen der deutschen Wiedervereinigung.
Source: Czech Radio 7, Radio Prague
URL: http://www.radio.cz/de/artikel/104939
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