[19.04.2008] - Kapitel aus der Tschechischen Geschichte - Till Janzer
Das wechselhafte Gesicht des Exils in der Tschechoslowakei
Als die Deutschen kamen, um Schutz zu finden, nahm die Tschechoslowakei sie
bereitwillig auf. Das war sofort nach der Machtergreifung Hitlers 1933 zu
spüren. Ja sogar die Staatspräsidenten T.G. Masaryk und Edvard Beneš
spendeten damals für die Flüchtlinge aus dem Nachbarland. Doch nicht
alle, die im Lauf der 30er Jahre aus ihrer deutschen Heimat fliehen
mussten, kamen in demselben Maß in den Genuss wohlwollender Haltung. Und
für die Flüchtlinge aus Österreich ab 1938 sah die Lage bereits völlig
anders aus. Dies haben zwei tschechische Historiker bei ihren Forschungen
zum wechselhaften Gesicht des Exils in der Tschechoslowakei herausgefunden.
Der Schriftsteller Thomas Mann war sicher der bekannteste deutsche
Emigrant, der sich in den 30er Jahren in Böhmen für eine Zeit
niederließ. Aber auch die politischen Spitzen der SPD oder der
Kommunistischen Partei wie etwa Walter Ulbricht gehörten dazu. Viele von
ihnen fanden lobende Worte für das Land, das sie in der Emigration
aufnahm. Wie zum Beispiel die deutschen Sozialdemokraten:
„Es muss hervorgehoben werden, dass sich das Verhalten der
Tschechoslowakischen Republik von dem Verhalten der Regierungen anderer
Nachbarländer Deutschlands vorteilhaft unterschied. Das gilt vor allem
für die Schweiz und die Niederlande, die sich auf den Standpunkt stellen,
dass jede politische Tätigkeit der Emigranten zu unterbinden sei, weil sie
die Beziehungen zu dem großen und mächtigen Nachbarn störe“, so das
Fazit der SPD-Parteiführung, als sie im Mai 1938 die Tschechoslowakei
verlassen musste.
Zu diesem Zeitpunkt war das Land in der Mitte Europas nicht mehr der
sichere Zufluchtsort, wie noch fünf Jahre zuvor nach Machtergreifung und
Reichstagsbrand. Für viele Flüchtlinge aus Deutschland und ab 1934 –
nach der Errichtung des faschistischen Ständestaates –aus Österreich
war die Tschechoslowakei aber auch schon vorher keine sichere Zuflucht.
Dies betrifft die große Masse der Flüchtlinge, die die Forschung bisher
meist links liegen ließ, während sie sich auf die Spitzen aus Kunst und
Politik konzentriert hat.
„Der Unterschied war wirklich groß – insbesondere zwischen der Elite,
der sozialdemokratischen Parteiführung, und den durchschnittlichen
politischen Flüchtlingen, die Deutschland häufig verlassen haben, nachdem
sie aus dem Konzentrationslager frei gekommen waren. Sie mussten dann in
der Tschechoslowakei unter sehr demütigenden Lebensbedingungen
vegetieren“, sagt Kateřina Čápková, die zusammen mit ihrem Kollegen
Michal Frankl zu dem Thema geforscht hat.
War man nicht privilegiert, meldete man sich zwar auch bei einem der vier
Hilfskomitees, kam dann aber dann in eines der Lager, in denen bis zu 100
Menschen häufig mehr hausten als wohnten. Der Anteil dieser Flüchtlinge
an der Gesamtzahl stieg im Laufe der Jahre von anfänglich 50 auf 90
Prozent. Den schwersten Stand inmitten dieses Fußvolkes hatten jedoch
Juden, die der rassistischen Verfolgung entkommen wollten. Kateřina
Čápková:
„Da das Innenministerium sehr daran interessiert war, diese jüdischen
Flüchtlinge weiterzuleiten, bekamen sie nur mit Problemen
Aufenthaltsgenehmigungen - oder unter der Bedingung, dass sie bald
weiterreisen werden.“
Ab 1935 verschlechterte sich zudem die rechtliche Stellung der jüdischen
Flüchtlinge in der Tschechoslowakei. Dies setzte mit dem Erlass der
Nürnberger Rassengesetze in Deutschland ein, die aus Juden Bürger zweiter
Klasse machten. In der Tschechoslowakei galten Juden nun häufig als
Wirtschaftsflüchtlinge – mit Folgen, wie aus den Erinnerungen
Betroffener zu lesen ist:
„Die Polizei stellte sich auf den Standpunkt, dass keine Emigranten
aufgenommen werden, die nur Wirtschaftsprobleme haben. Die Tschechoslowakei
gab weder Arbeitserlaubnis noch Unterstützung und verwies die
Wirtschaftsemigranten darauf, sich von Deutschland unterstützen zu lassen.
Ferner wurden keine Flüchtlinge anerkannt, die gegen bestehende Gesetze
verstoßen hatten. Das galt auch für Verstöße gegen die
Rassengesetze.“
So steht es in den Erinnerungen von Käthe Frankenthal. Sie war
unmittelbar nach der Machtergreifung Hitlers aus Berlin geflohen war und
arbeitete ab 1936 im Jüdischen Hilfskomitee in Prag. Über die Folgen für
die jüdischen Flüchtlinge schreibt sie:
„Es waren nicht nur Hunderte illegal in Prag, die ganz verelendet waren
und sehr oft kriminell wurden. Die Unterstützung, die die privaten
Komitees gaben, war so gering, dass auch die Unterstützten leicht auf
Abwege kamen. Die Unterstützung betrug etwa ein Drittel dessen, was ein
Mensch bei den allerbescheidensten Ansprüchen zum Leben braucht.“
Unter diesen Umständen blieben nur wenige Flüchtlinge im Land, die
Fluktuation war sehr hoch. Zwar hat die Tschechoslowakei in den sechs
Jahren zwischen 1933 und 1939 insgesamt 20.000 Menschen aus Deutschland
oder Österreich beherbergt. Doch nie waren es mehr als 1500 bis 2000
gleichzeitig. Käthe Frankenthal im Übrigen erhielt Ende der Dreißiger
Jahre rechtzeitig ein Visum für die Vereinigten Staaten, wohin sie
emigrierte und wo sie auch bis zu ihrem Tod 1976 lebte.
Ganz anders das Schicksal vieler österreichischer Bürger: Als Hitler am
11. März 1938 Österreich besetzt, kommt es in der Tschechoslowakei zu
einer plötzlichen Änderung der Flüchtlingspolitik.
„Die Änderung war so radikal, dass innerhalb von Stunden, als die
Nachricht bekannt wurde, die deutsche Armee habe die Grenze von Österreich
übertreten, einfach die Grenze zwischen der Tschechoslowakei und
Österreich für österreichische Staatsbürger gesperrt wurde. Diese
blitzschnelle Reaktion war für alle überraschend“, so Čápková.
Und kein anderes Nachbarland Österreichs ahmt diese Reaktion nach. Die
Schweiz zum Beispiel schließt ihre Grenze erst zwei Monate später - im
Mai. Die Folgen lassen sich ausmalen. Bekannt ist das Schicksal des letzten
Schnellzugs, der in der Nacht des 11. März aus dem noch freien Wien
startet. In ihm sitzen rund 200 meist oppositionelle österreichische
Politiker. Mehrfach wird der Zug von Hitler-freundlichen Gruppen
überfallen, kann aber die Grenze passieren und hält dann auf dem Bahnhof
im Grenzort Břeclav / Lundenburg.
„Alle hofften, dass sie nun frei sind, aber ihnen wurde befohlen
auszusteigen und alle österreichischen Staatsbürger mussten mit dem
nächsten Zug nach Wien zurückfahren. Viele wurden dort gleich von der
Gestapo verhaftet und ins Konzentrationslager nach Dachau geschickt“,
beschreibt Kateřina Čápková das Schicksal der Zug-Reisenden.
Weil die tschechoslowakische Polizei rigoros vorging, wählten viele
weitere Österreicher den illegalen Grenzübertritt über die grüne
Grenze. Auch hier waren Juden wieder in einer besonders verzweifelten Lage.
Die Gestapo trieb sie in den ersten Wochen und Monaten regelrecht vor sich
her, Österreich sollte „judenrein“ werden, wie der Befehl der Nazis
lautete. Doch an der Grenze zur Tschechoslowakei wurden die jüdischen
Flüchtlinge wieder abgewiesen. Anfang Juli 1938 berichtete das Jüdische
Hilfskomitee im südmährischen Brno / Brünn über das Geschehen:
„Die tschechoslowakischen Grenzorgane gehen so vor, dass sie die in die
ČSR kommenden Emigranten nicht die Grenze überschreiten lassen und sie
von der Grenze zurückschieben, so dass oft solche Emigranten stundenlang
in den Wäldern, oft im Sumpfgebiet herumirren und oft dreimal von
tschechoslowakischen und österreichischen Grenzorganen auf der Grenze hin-
und hergejagt werden, oft auf der einen oder anderen Seite verhaftet
werden, bis es ihnen gelingt, nach größeren Entbehrungen und Strapazen,
oft zermürbt und halb ausgehungert, sich auf tschechoslowakischen Boden
durchzuschlagen, wo ihnen wieder Verhaftung droht.“
Hinter der harten Haltung standen zu dem Zeitpunkt politische Ängste. Die
Tschechoslowaken konnten sich ausrechnen, dass sie die nächsten Opfer
Hitlers würden. Kateřina Čápková:
„Es lässt sich feststellen, dass die tschechoslowakische Gesellschaft
zu dem Zeitpunkt kein Mitleid mit diesen Flüchtlingen hatte. Der Anschluss
Österreichs war für die tschechoslowakische Bevölkerung ein Zeichen,
dass die Bedrohung des eigenen Landes bereits sehr hoch ist, und man sah
eher die eigenen Probleme.“
Wie vielen Österreichern dennoch der Weg in die Tschechoslowakei gelang,
lässt sich nur schätzen. Laut den Protokollen über die Polizeiverhöre
waren es etwa 1500 bis 2000 Menschen, es könnten aber laut Kateřina
Čápková auch mehr gewesen sein, weil nicht alle verhört wurden. Das
Innenministerium registrierte zugleich etwa 10.000 erfolglose Versuche,
über die Grenze zu gelangen. Da es manche Menschen mehrfach probierten,
dürfte die Zahl der Abgewiesenen aber unter dem Wert gelegen haben. Es
waren aber wohl mehrere Tausend, die nicht die Chance auf das ersehnte Exil
erhalten haben - und das noch vor dem Einmarsch der Wehrmacht in die so
genannte Rest-Tschechei am 15. März 1939.
Was ist nun das Fazit? Viele Menschen fanden in der Tschechoslowakei
Zuflucht vor den Nazis. Für einige bedeutete das zweifellos die Rettung.
Doch die Vorstellung von einer besonders großzügigen Flüchtlingspolitik
der Tschechoslowakei lässt sich nicht aufrechterhalten, wie Kateřina
Čápková und Michal Frankl urteilen. Ihre Ergebnisse werden sie
demnächst auch in einem gemeinsamen Buch veröffentlichen. Zwei
Hauptthesen streicht Kateřina Čápková dabei heraus:
„Die Tschechoslowakei wollte wie die Schweiz, Holland und andere
europäische Länder nur Transitland sein. Das zum einen. Zum Zweiten haben
wir Ähnlichkeiten darin gefunden, dass sich die Flüchtlingspolitik mit
der Zeit geändert hat und immer restriktiver wurde, wie in den anderen
europäischen Staaten auch. Und das fand dann eben 1938 beim Anschluss
Österreichs an das Deutsche Reich und angesichts der Welle der
österreichischen Flüchtlinge seinen Höhepunkt.“
Source: Czech Radio 7, Radio Prague
URL: http://www.radio.cz/de/artikel/103188
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