[10.02.2008] - Kultursalon - Thomas Kirschner
Imaginierte Möglichkeiten - Peter Härtling und die Heimat Mähren
Der Schriftsteller Peter Härtling war in den letzten Tagen als erster
Residenzstipendiat aus Deutschland zu Gast am Prager Literaturhaus
deutschsprachiger Autoren. Für den 74-Jährigen war es keine Fahrt in die
Fremde – er hat seine Kindheit in den böhmischen Ländern verbracht, in
Brünn und Olmütz. Thomas Kirschner hat Peter Härtling getroffen.

Peter Härtling
„Als ich nach vierzig, fünfzig Jahren nach Olmütz wiederkam, bin ich in
die Stadt gegangen und habe alles wieder gefunden. Es war wie ein Gang, den
ich nach Jahrzehnten selbstverständlich wiederholte.“
Die eigene Kindheit ist für Peter Härtling stets präsent geblieben –
vielleicht ist er deshalb einer der wenigen Autoren, der es versteht, für
Kinder wie auch für Erwachsene zu schreiben. Geboren wurde er 1933 in
Chemnitz, die prägenden Eindrücke hat er aber in Mähren empfangen, in
Brünn und in Olmütz, in der Heimat des Vaters, in die die Familie in den
vierziger Jahren zurückgekehrt war. Und auch durch das heutige Prag
schimmert für Härtling noch die Erinnerung an das eigene, das vergangene
Prag:
„Das ist das Prag der Kindheit. Wenn wir – meine Eltern, meine kleine
Schwester und ich – aus Dresden nach Brünn fuhren, zu unseren
Verwandten, vor allem auch den tschechischen Verwandten, dann fuhren wir
immer über Prag. Und für mich war das beinahe eine Traumreise. In Prag
bin ich dann mitunter mit meinem Vater spazieren gegangen, über den
Wenzelsplatz zum Veitsdom. Es waren immer Kindergänge, auch etwas
anstrengend. Und dann fuhren wir weiter nach Brünn zu unsern Verwandten,
und da begann dann für mich das fröhliche fremde Leben, in das ich mich
einmischen konnte, das mich entzückte und das für mich jedes Mal neu
war.“
Gerade Brünn, die mährische Metropole, hat tiefe Spuren in Härtlings
Werk hinterlassen. Ruth und Lea, die große und die kleine Schwester, der
seltsame alte John oder Tante Tilli – immer wieder wurzeln die Figuren in
Härtlings Büchern im Brünner Boden. „Nachgetragene Liebe“ nennt
Härtling seine Suche nach dem fremd gebliebenen Vater, Liebe aber trägt
er darin auch dem mährischen Brünn nach.
„Brünn ist nach Dresden, wo Mutters Eltern leben, die zweite Stadt, die
ich erkunde. Und es ist die Stadt, die in meinem Kopf zum Inbild aller
Städte wird, auch später durch keine andere ersetzt worden ist, mit ihren
von Kinderaugen geweiteten Plätzen und Parks standhält gegen Prag, Wien
Paris oder London, aufgebaut ist aus Staunen und Neugier.“ (aus dem Buch
"Nachgetragene Liebe")
„Bei der ersten Fahrt, die ich mit meiner Mutter nach Brünn angetreten
habe, war ich drei Jahre alt. Und Brünn war für mich – neben Dresden im
übrigen – diese große Stadt, die mit ihren für Kinder rätselhaften
Einzelheiten unglaublich anziehend war: der Spielberg, der Brünner Drache
im Rathausdurchgang, auch wenn es eigentlich nur ein Krokodil war, der
Krautmarkt, die Schwarzen Felder, wo mein Onkel Beppo wohnte – das waren
alles Eindrücke, die für ein Kind märchenhaft waren… reich…“
„Die Bilder ordnen sich zu einem Album ´Stadt´: Der Augarten und die
Straße an der jenes schäbige Haus steht, aus dessen Kellerfenster eine
Oblatenbäckerei Mandel- und Honigduft aussendet...“ (aus dem Buch
"Nachgetragene Liebe")
„Wenn man die Straße herunterkam, wo meine Großmutter wohnte – Am
Bergl – und diese Straße weiterging, da war der Park und eine Zeile mit
großen Mietshäusern. Und in einem dieser Mietshäuser, da war diese
Oblatenbäckerei. Und ich war süchtig nach diesem Duft!“
„Ich wandere vom Kaffee-Meinl zum Markt, zum Rathaus und erfinde alle
die wahren Geschichten, weshalb in den Arkaden von der Decke ein Wagenrad
und ein schuppiger Drache hängen; ich drängle mich zwischen den
sonntäglich gekleideten Leuten, die auf dem weiten Platz vor dem
´Deutschen Haus´ dem Konzert zuhören und reise dann mit der Straßenbahn
zur Großmutter.“ (aus dem Buch "Nachgetragene Liebe")
„Ich frage mich, warum der Vater das Haus, in dem er, noch im Schatten
der großen Kirche, seine Kindheit zugebracht hatte, je verließ, denn es
gleicht, von Efeu zugewachsen, einer Märchenburg, und immer habe ich, nach
aufregenden Um- und Irrwegen, eine der drei Wohnungen zum Ziel, vielleicht
auch ihre Bewohner, die mich, weil sie sich in nichts ähneln, anziehen und
einschüchtern.“
„Ich habe in Brünn – erstaunlicherweise in der Stadt, in der es
Menschen gab, die ich sehr geliebt habe – nichts wiedergefunden. Olmütz
war dagegen für mich der Spielraum, und ein spielendes Kind vergisst den
Raum nicht, in dem es gespielt hat. Auf diese Weise habe ich mir das
erklärt. Es hat auch keinen Sinn, Heimatgefühle in sich zu erwecken. Es
sind Gefühle der Wiederkehr, des Wiedersehen, der Wiederentdeckung.
Olmütz und Brünn sind für mich, wenn man so will, Anfänge von Heimat,
die ich nicht mehr habe.“
"Melancholie entsteht nicht, wenn man, wie ich etwa in Olmütz, etwas
wiederfindet. Melancholie entsteht, wenn man Umgebung, die einem vertraut
war, abfragt nach dem, was einem vertraut war. Das tue ich ganz selten –
allenfalls, indem ich es erzählend wiederherstelle. Für mich ist es immer
da. Ich habe beispielsweise das Haus am Brünner Domberg, in dem meine
Großeltern gewohnt haben, nicht wieder erkannt. Das war zu lange her. Bis
mir jemand sagte: Das muss es gewesen sein. Da sagte ich: ja, das muss es
gewesen sein.“
„Großmutter und Tante Käthe sind eine von zwölf Parteien in einem
fünfstöckigen Haus, das mit seinem reich dekoriertem Treppenaufgang mir
wie ein Palast vorkommt, hinter dessen mit Spionen versehenen schweren
Holztüren gutmütige Hexen wohnen, wie Madame Longe, oder frühzeitig
gealterte, über eine Batterie von Schminktöpfen gebietende Primadonnen
wie ´Tante Tilly´. Sie bilden Großmutters Hofstaat, treffen sich zum
Kaffee, zum Tee, ich habe sie auf beide Wangen zu küssen und merke, wie
unterschiedlich Puder und Rouge schmecken, lege mich auf den schönen
weichen Teppich in Tante Käthes Zimmer und, lese und höre ihren
Gesprächen zu.“ (aus dem Buch "Nachgetragene Liebe")
„Es war der Familienort, der, wenn man so will, durch Menschen besetzte
Ort. In Brünn hat es Menschen gegeben, die nicht nur die Stadt
repräsentierten, sondern für mich auch neue Erfahrung, anderes Verhalten,
auch Reglementierung – mein Onkel Beppo reglementierte mich ständig.
aber er hatte zugleich auch märchenhafte Züge: Er malte auf
Elfenbeinblätter französische Kokotten und Rehe oder er setzte ungemein
furchtbare Liköre an, die ganz farbig wurden oder er ging jagen oder
fischen mit seinem Freund Waldhans. Er hasste die Deutschen, er hasste
Präsident Hácha – es war ein putzlebendiger, eigentümlicher und
schwieriger Mensch, der mich reizte. Kinder werden ja oft durch
antipodische Erscheinungen angezogen. Und wenn er sagte: jetzt setzten wir
uns vors Grammophon, dann saßen wir da und hörten Platten von Smetana,
Dvořák, Janáček. Und das war für mich auch eine Erziehung.“
Ist es deshalb so, dass Menschen, Figuren, denen Sie als Autor beim
Schreiben nahe kommen wollen, häufig aus Brünn kommen – so wie Ruth und
Lea, der alte John oder Tante Tilli?
„Das ist wahr. Brünn ist besetzt mit Menschen, die meine Kinderaugen
gesehen habe, und die immer wieder auftauchen, wenn ich eigenartige,
eigenwillige, eigenwüchsige Personen zu beschreiben versuche. Beinahe
gesetzmäßig, würde ich sagen. Ich imaginiere Möglichkeiten. Für mich
ist Brünn eine der Möglichkeiten meiner Vergangenheit. Ein erlebter und
gelebter Konjunktiv.“
Source: Czech Radio 7, Radio Prague
URL: http://www.radio.cz/de/artikel/100535
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