[03.12.2005] - Kapitel aus
der Tschechischen Geschichte - Katrin Bock
Die Neubesiedlung der Sudetengebiete nach Mai 1945
Anlässlich des 60. Jahrestages des Kriegsendes war
dieses Jahr viel die Rede über die Vertreibung der Deutschen aus der
Tschechoslowakei, weniger allerdings darüber, wie die ehemaligen Sudetengebiete
nach Mai 1945 aussahen? Dies erfahren Sie nun im heutigen Kapitel aus der
tschechischen Geschichte von Katrin Bock.
Vor 60 Jahren, im Herbst, Winter 1945 waren die
Böhmischen Länder in Bewegung - 100.000e von Sudetendeutschen mussten damals das
Land verlassen, Tschechen kehrten aus Konzentrationslagern oder Emigration
zurück oder suchten ihr Glück in den Grenzgebieten. In den Gegenden, in denen
überwiegend Deutsche gelebt hatten, fand ein Bevölkerungsaustausch statt. Bis
Ende 1947 mussten rund 3 Millionen Deutsche ihre Heimat verlassen,
schätzungsweise 2,1 Millionen Tschechen und 160.000 Slowaken fanden hier
wiederum eine neue.
Die Neubesiedlung jener sudetendeutschen Gebiete ist bis
heute sowohl in Tschechien als auch in Deutschland mit einigen vagen, oftmals
falschen Vorstellungen verbunden. Der Historiker Dr. Andreas Wiedemann, der
seine Dissertation über dieses Thema schrieb und sich auch sonst damit eingehend
befasst, räumt heute für Sie mit einigen dieser falschen Vorstellungen auf.
Zunächst einmal: im Herbst, Winter 1945 hatte das so genannte Sudetengebiet
wahrscheinlich die meisten Bewohner in seiner gesamten Geschichte - wieso, das
erfahren Sie von Andreas Wiedemann:
Im
November und Dezember1945 waren schon knapp eine Millionen Neusiedler in die
Grenzgebiete gewandert. Die Vorstellung, dass die Neusiedler in menschenleere
Gebiete kamen, aus denen die deutsche Bevölkerung vorher vertrieben worden war,
stimmt in dem Sinne nicht, weil die Vertreibung und die Besiedlung Prozesse
waren, die parallel abliefen und eng miteinander verbunden waren. D.h., die
Neusiedler kamen in Gebiete, in Städte, Dörfer, in denen zum größten Teil noch
deutsche Bevölkerung lebte.
Dieses Zusammenleben von tschechischen Neusiedlern und
deutschen Alteingesessenen brachte natürlich viel Zündstoff mit sich, aber nicht
nur.
Es gibt das Phänomen, dass Wochen oder Monate lang noch
beide Familie sozusagen unter einem Dach lebten. Dass es da sowohl Konflikte
gab, das liegt auf der Hand. Aber man kennt aus Mikrostudien auch das Phänomen,
dass tschechische Neusiedler von deutschen Bauern teilweise Tipps behalten
haben, wie man denn jetzt diesen Hof zu führen hat. Aber das waren Einzelfälle.
Natürlich war das Jahr 1945, besonders der Sommer 45 geprägt durch die wilde
Vertreibung, durch zahlreiche Konflikte, die nicht nur auf der Ebene liefen
zwischen Deutschen und Tschechen, sondern auch zwischen tschechischen
Neusiedlern und tschechischen Alteingesessenen gerade in der Frage der
Behandlung der deutschen Bevölkerung.
In Deutschland ist die
Vorstellung verbreitet, dass die tschechischen Neusiedler Häuser, Höfe, Felder
und Betriebe umsonst bekommen haben:
Die beschlagnahmten und konfiszierten Besitztümer der
deutschen Bevölkerung wurden de facto nicht verschenkt, sondern es mussten dafür
Übernahmepreise entrichtet werden, die allerdings sehr niedrig waren und
teilweise eher symbolischen Charakter hatten. Die Bauernhöfe, der
landwirtschaftliche Boden wurden auch zu sehr niedrigen Preisen veräußert. Es
ist wichtig zu wissen, dass es nicht verschenkt wurde, sondern dafür auch
Übernahmepreise entrichtet werden mussten, weil diese teilweise später als Hebel
benutzt werden konnten. Als es um die Kollektivierung in der Landwirtschaft
ging, waren die Schulden, die dann die neuen Bauern bei dem nationalen
Bodenfonds hatten, ein Mittel um die Kollektivierung voran zu treiben, indem
nämlich den Neubauern angeboten wurde, also wenn ihr jetzt in die Genossenschaft
eintretet, dann werden euch die Schulden erlassen.
Von den insgesamt 204.200 von Deutschen konfiszierten
Häusern wurden in den ersten Nachkriegsjahren 180.000 an Neusiedler verkauft.
Wurde die Neubesiedlung
irgendwie organisiert? Gab es eine extra Behörde oder ein Amt?
Die ersten Siedler, die jetzt aus Prag oder anderen Gebieten
in die Grenzgebiete wanderten, wanderten spontan aufgrund der Aufrufe, die es in
der Presse gab oder Presseartikel, die dazu aufriefen, den Besitz der Deutschen
unter nationaler Verwaltung zu übernehmen. Es gab freilich Behörden dann, die
gegründet wurden, die sich mit der ganzen Organisierung des Besiedlungsprozesses
befasst haben. Das Besiedlungsamt in Prag nahm erst im Herbst 1945 seine Arbeit
auf. Dass heißt, man kann ab Herbst 1945 von einer organisierten Besiedlung oder
den Versuch einer organisierten Besiedlung sprechen. Für den Sommer 1945 könnte
man den Begriff unorganisierte Besiedlung oder - als Pandon zur wilden
Vertreibung könnte man auch sagen, das ist eine wilde Besiedlung. Natürlich ist
die Vorstellung nicht ganz richtig, dass es im Sommer 1945 absolut unorganisiert
war. Die gegründeten Nationalausschüsse vor Ort in den Städten und Bezirken
waren natürlich bemüht, die Siedlerströme zu lenken und zu gucken, dass die
Verteilung der neuen Bewohner halbwegs organisiert ablief.
Wie war eigentlich das Interesse der Tschechen
dahin zu gehen? Waren das vor allem solche Abenteurer in den ersten Monaten, die
für sich selbst etwas herausholen wollten?
Die Zuwanderer im Sommer 45 waren in erster Linie darum
bemüht, die Chance zu ergreifen, ihre soziale, wirtschaftliche oder
Lebenssituation zu verbessern - in der Hoffnung in den Grenzgebieten eine
bessere Arbeitsstelle oder einen besseren Posten zu bekommen, z.B. als so
genannter nationaler Verwalter eines Betriebes. Das war schon der maßgebliche
Antriebsgrund, um überhaupt den Wohnort zu wechseln. Natürlich gab es bei den
ersten Siedlern auch die Rückkehrer, also ehemalige Bewohner der Grenzgebiete,
die 1938 oder danach die Grenzgebiete verlassen haben und nun zurückkehrten.
Natürlich haben wir auch das Phänomen der Plünderer und der Goldgräber, die
Zlatokopci, wie sie genannt wurden, die in die Grenzgebiete gingen, mitnahmen,
was nicht Niet- noch Nagelfest war oder in kurzer Zeit möglichst viel Gewinne
gemacht haben, um dann wieder wegzugehen.
Josef Skrabek erlebte die Zeit der
Neubesiedlung und Goldgräber als 17jähriger in seinem Heimatdorf Waltsch-Valec
bei Karlovy Vary-Karlsbad. Aus diesem war er mit seiner deutschen Mutter und
tschechischen Vater nach dem Münchner Abkommen im Herbst 1938 geflohen. Im
Sommer 1945 kehrte Josef Skrabek zurück:
Das waren Tschechen aus Polen und Tschechen aus dem
Böhmerwald und auch einige Slowaken sind gekommen. Es waren verschiedenste Leute
dort und es haben dort viele nicht ausgehalten. Ich kenne zum Beispiel eine
Familie, die war in einem Haus, dann wollten sie ein anderes nehmen und dann
sind sie weitergegangen von Waltsch nach Burgau, von Burgau nach Karlsbad und
die sind dann verschwunden noch hinter Eger. Immer weiter und weiter. Zum
Beispiel ein Grund, warum sie ein Haus verlassen haben, war, dass dort kein
Brennholz mehr vorbereitet war. Dann sind sie wo anders hingegangen. Aber das
waren schon Ausnahmen.
Die Neubesiedlung der
Sudetengebiete war lange Jahre vergessen, niemand interessierte sich für dieses
Thema. Damals - vor 60 Jahren - war es allerdings ein Thema, das die ersten
Seiten der Zeitungen ebenso füllte wie Radiosendungen, über das Romane
geschrieben und über das vor allem heftig diskutiert wurde:
In den großen Tageszeitungen konnte anhand von
Zeitungsartikeln im ganzen Land verfolgt werden, wie die Besiedlung verlief. Das
war ja so, dass es da auch nicht immer eine einheitliche Meinung unter den
politischen Parteien und Politikern über die Durchführung und Ziele der
Besiedlungspolitik gab. Die kommunistische Partei besetzte die wichtigsten
Schlüsselpositionen im Bereich der Besiedlungspolitik. Es gab bis 1948 große
Auseinandersetzungen über spezielle Fragen der Besiedlung, also über das bereits
erwähnte Goldgräberphänomen wurde auch in der Presse gestritten. Die Besiedlung
war insgesamt auf jeden Fall ein Prozess, der nicht im Geheimen ablief, und an
dem eigentlich das ganze Land beteiligt war.
Der tschechoslowakische Präsident Edvard Benes bereiste
in den ersten Nachkriegsjahren die Sudetengebiete, um sich persönlich ein Bild
vom Wiederbesiedlungsprozess zu machen. In erster Linie betonte Benes in seinen
dort gehaltenen Reden, wie froh nun alle Tschechen sein könnten, endlich unter
sich zu sein - doch hie und dort war auch Kritik zu hören, wie in folgender
Rede, die Benes im Juni 1947 im südmährischen Znojmo-Znaim hielt:
Ich verfüge über genaue Nachrichten, wie die
Besiedlung unserer Grenzegebiete von statten geht. Einige Kreise habe ich selber
besucht... Man muss feststellen, dass insgesamt viel gute und begeisterte Arbeit
geleistet wurde. Aber ich weiß auch, dass hier und da Fehler begangen wurden und
es zu unschönen Plünderungen kam. .. Karrieristen und Opportunisten haben die
Gelegenheit ergriffen, die ihnen günstig erschien. Aber dies sind nur
vereinzelte Übergangserscheinungen. Die Grenzgebiete werden bereits von diesen
ausgesprochen asozialen Elementen gesäubert.
1952 wurde der Prozess der Neubesiedlung der ehemaligen
Sudetengebiete für beendet erklärt. Die Grenzegebiete hatten nun ca. eine
Millionen weniger Einwohner als vor dem Zweiten Weltkrieg. Viele Dörfer und Höfe
verfielen und verschwanden mit der Zeit vollständig von der Landkarte. Die neuen
Bewohner jener Landstriche fühlen sich heute dort längst zu Hause, wie Josef
Skrabek in seinem Heimatdorf Waltsch-Valec feststellen kann:
Aber ich bin nicht ganz mit dieser Behauptung einverstanden,
wenn man sagt, diese Leute haben keine Beziehung zu ihrem Heim, diejenigen, die
jetzt dort wohnen. Es ist ja schon teilweise die dritte Generation und diese
Leute haben schon Beziehungen. Dort auf den Friedhöfen sind nicht die
Urgroßväter da, aber es sind schon Leute, welche dorthin gekommen sind und schon
1946 oder 1947 gestorben sind, das sind auch schon über 50 Jahre. Aber es ist
nicht mehr wahr, dass die Leute es nicht als ihre Heimat betrachten. Das ist
schon die Heimat dieser Leute.
Der Historiker Andreas Wiedemann, der im heutigen
Geschichtskapitel zu hören war, widmet sich auch weiter diesem Thema und
bereitet in einem internationalen Team die Herausgabe von Dokumenten jener Jahre
vor.
Source: Czech Radio 7, Radio Prague
URL:
http://www.radio.cz/de/artikel/73191
© Copyright 1996, 2005 Radio
Prague
All rights reserved.