[29.11.2005] - Begegnungen - Bára Procházková
"Deutsche müssen in die tschechische Geschichte zurück"
Was bedeuten 60 Jahre Frieden und Integration in Europa
für die deutsch-tschechischen Beziehungen? Auf diese Frage gibt es gewiss
mehrere Antworten - viele davon waren bei der Jahreskonferenz des
Deutsch-tschechischen Gesprächsforums am vergangenem Wochenende in Berlin zu
hören. Die dortige Diskussion über die europäische Dimension der
deutsch-tschechischen Geschichte hat Bara Prochazkova verfolgt.
Die
deutsch-tschechische Geschichte ist durch ein zentrales Problem gekennzeichnet -
plötzlich ist das "deutsche" im deutsch-tschechischen einfach abhanden gekommen.
Diese Lücke in der Geschichtsschreibung erwähnte in der Podiumsdiskussion Zdenek
Benes vom Institut für tschechische Geschichte an der Karlsuniversität in
Prag:
"Auf der tschechischen Seite war es in den vergangenen 15
Jahren nötig, einen wesentlichen Schritt zu machen - nämlich die Deutschen in
die tschechische Geschichte zurückzuholen. Die Analyse der tschechischen
Schulbücher hat gezeigt, dass die ehemaligen deutschen Mitbürger in den 60er
Jahren aus den Geschichtsbüchern verschwunden sind, ausgenommen von zwei Themen
- das Münchener Abkommen und die Vertreibung."
In den letzten 15 Jahren habe es
jedoch diesbezüglich einen großen Fortschritt gegeben, betonte der Leiter der
Deutsch-tschechischen Schulbuchkommission, Zdenek Benes. Allerdings fehle auch
in den deutschen Geschichtslehrbüchern nach wie vor ein Gesamtbild der
Nachbarnation, also der Tschechen. Benes setzt jedoch seine Hoffnung auf die
kommende junge Generation, die bereits eine andere Sicht auf die Problematik
hat. Der deutsche Vorsitzende der Schulbuchkommission, Manfred Alexander,
erklärt dies mit der strukturellen Asymmetrie der bilateralen Beziehungen.
Während die Deutsch-Böhmen ein Bestandteil der tschechischen Geschichte seien,
und deshalb die Tschechen auf diesen Teil nicht verzichten können, seien die
Tschechen für die Bundesdeutschen nur eine Randerscheinung, so Alexander. Außer
einigen Ausnahmen selbstverständlich:
"Für die deutsche Öffentlichkeit, die sich mit den Themen
der böhmischen Geschichte und Erfolgen beschäftigt, gibt es neben der
wissenschaftlichen Beschäftigung und der Umsetzung der Wissenschaft in das
Schulbuch auch eine Nischen-Produktion, die von der Landsmannschaft betrieben
wird und die ich nicht als wissenschaftliche bezeichnen möchte. Die aber für
einen begrenzten Interessentenkreis eine wegweisende Bedeutung hat."
Gibt es eine Chance für eine gemeinsame Erinnerung von Tschechen und
Deutschen? Auch auf diese Frage antwortet Manfred Alexander skeptisch, denn
deutsch sei nicht gleich deutsch. Es gebe im deutsch-tschechischen Kontext drei
Ebenen des Begriffes "deutsch": Deutsch, das sind einerseits die Deutsch-Böhmen,
die späteren Sudetendeutschen also, zugleich aber auch die Deutsch-Österreicher
und natürlich auch die Bürger des gegenwärtigen Deutschland. Jede Ebene sei
anders, das Verhältnis zu den Böhmisch-Deutschen sei jedoch für die Wahrnehmung
der Tschechen dominant. Zu der Frage einer gemeinsamen Erinnerungskultur äußerte
sich also auch der Berliner Historiker Etienne Francois eher negativ:
"Die größten Probleme liegen nicht in der Bewertung der
Vergangenheit, das ist relativ leicht, sich zu einigen. Aber in der Frage der
Vermittlung - wie schreibt man einen Text, wie sucht man die Quellen und die
Bilder für ein Buch, wie vermittelt man es den Schülern, wie gestaltet man seine
Unterrichtsstunde - da gibt es gravierende Unterschiede. Und die sollten wir
nicht herunterspielen, denn diese Unterschiede sind auch ein Ausdruck von
unterschiedlichen Kulturen."
Jedoch treten die deutsch-tschechischen Beziehungen in eine
Phase des Wandels, ausgelöst durch die Neubewertung der vergangenen 60 Jahre.
Einen bedeutenden Einfluss habe darauf auch die europäische Dimension dieses
bilateralen Verhältnisses im Herzen von Europa, setzt Manfred Alexander
fort:
"Die Geschichte der böhmischen Länder ist europäische
Geschichte, weil sich in den Problemen dieses relativ kleinen europäischen
Zentrallandes eben alles wieder findet, was europäische Geschichte ausmacht. Und
zwar in seiner positiven Deutung als auch in der Zuspitzung der negativen
Erfahrungen. Und die Geschichte des Habsburger Reiches, das der Deckel der
böhmischen Länder bis zum Ende des Ersten Weltkrieges war. Die Geschichte des
Habsburger Reiches ist Geschichte Europas, nicht nur Mitteleuropas."

Manfred Kittel (Foto: www.sonntagsblatt-bayern.de)
Ein Fazit der
Diskussion: Wenn die bilateralen Beziehungen bewusst auf eine höhere - also die
europäische - Ebene gehoben werden, könne man besser die Vielschichtigkeit des
bilateralen Verhältnisses sehen.
Manfred Kittel aus dem Institut der modernen Geschichte,
stellte bei der Konferenz ein Projekt zum Vergleich der Rechtsnormen vor. Kittel
hat den Blick auf die Frage gerichtet, warum im Westen Europas kaum
Vertreibungen durchgeführt worden sind, während Osteuropa von einer
Vertreibungswelle überrollt wurde. Im Westen wurden gezielt Kollaborateure
verfolgt und verurteilt, im Osten wurde dagegen allgemein die Kollektivschuld
vertreten. Manfred Kittel fügt hinzu:
"Und hinzu kam ja bekanntlich, dass die Westmächte es
zugelassen haben, dass im Osten Europas einfach andere Maßstäbe angelegt wurden
als im Westen. Sie taten dies nicht zuletzt deshalb, weil die
Nationalitätenkonflikte im Ostmitteleuropa für die Vorgeschichte des Zweiten
Weltkrieges eine ungleich größere Rolle gespielt hatten als jene im
Westen."
Ost und West unterscheiden sich im Falle der Vertreibungen
in unterschiedlichen Politikansätzen, die angewandt worden sind. Anders waren
auch die Folgen. Im Osten Europas lag der prozentuelle Anteil der deutschen
Bevölkerung viel höher als im Westen. Dies verursachte ein Chaos in den jungen
Nationen, sagte Kittel:
"Außerdem handelte sich fast bei allen
ostmitteleuropäischen Staaten um Neu- oder Wiedergründungen. Es handelte sich
oft um ungefestigte labile Demokratien. Für die Minderheitenstaaten waren
Minderheitenprobleme wesentlich existenziellerer Natur."
Gegen die präsentierte demokratische Überlegenheitstheorie
trat in der Diskussion die Tschechien-Expertin Antje Vollmer auf. Sie betonte,
dass man die Vertreibungen kaum mit Zahlen darstellen kann. Bei der Aufzählung
der Vertreibungsursachen fehlen bedeutende Tatsachen, warum gerade im Osten die
Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg in dem Maße durchgesetzt wurde. Vollmer
weiter:
"Wenn eine frühere Minderheit zur Mehrheit wird, dann
gibt es im gegenseitigen Verhältnis Spuren von früher erfahrenen
Unrechtstatsachen oder Dominanztatsachen. Die Tschechen waren in der k.u.k.
Monarchie die eindeutig sozial am wenigsten geachtete Nation. Mit der nationalen
Unabhängigkeit wurden sie dann zu einer führenden Nation. Und umgekehrt: Die
Deutsch-Böhmen waren eine dominierende und sich kulturell überlegen fühlende
Nation. Sie hatten also Schwierigkeiten nun nicht mehr die erste Rolle zu
spielen."
Vergessen dürfe man nicht, dass die Vertreibung der
Deutschen eine Reaktion auf den Völkermord an den Juden war. Denn die Realität
und das Erlebte wecke automatisch ein Rachebedürfnis, fügte Antje Vollmer hinzu.
Der Direktor des Instituts für moderne Geschichte aus Prag, Oldrich Tuma,
bestätigte, dass nicht alle Daten so leicht zu vergleichen sind:
"In Dänemark, Italien oder Belgien war das Problem der
deutschen Minderheiten zwar belastend aber regional. Es handelte sich um kein so
ganzstaatliches Problem so wie im Falle der Tschechoslowakei. In Dänemark zum
Beispiel gab es nicht die Erfahrung, dass deutsche Minderheiten Jahrhunderte
lang eine zivilisatorische oder kulturelle Superiorität beansprucht haben und
davon ausgehend einen Dominanzanspruch stellten, wie zum Beispiel in der
Tschechoslowakei oder in Polen. Und das hat, glaube ich, auch eine Rolle
gespielt."
Source: Czech Radio 7, Radio Prague
URL:
http://www.radio.cz/de/artikel/73194
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