[08.10.2005] - Kapitel aus
der Tschechischen Geschichte - Sebastian Kraft
"Einmalig in der Vertriebenengeschichte" - aus Gablonz wurde
Neugablonz
Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges und der damit
verbundenen Vertreibung der Sudetendeutschen aus den böhmischen Ländern schossen
vor allem in Bayern die so genannten Vertriebenenstädte wie Pilze aus dem Boden.
Eine dieser Neuansiedlungen im Voralpenland hat eine ganz besondere Geschichte,
die Ihnen nun Sebastian Kraft vorstellen wird.
Jablonec nad Nisou / Gablonz an der Neiße
gehörte vor dem Zweiten Weltkrieg zu den blühenden Städten Nordböhmens. Die
damals zu mehr als 90% von Sudetendeutschen bewohnte Stadt im malerischen
Isergebirge war durch ihre Schmuck- und Glasindustrie weltbekannt. Diese so
genannte
"Gablonzer Bijouterie" galt auch als der Hauptmotor des
wirtschaftlichen Aufschwungs, den Gablonz zu Beginn des 20. Jahrhunderts
erlebte. Dabei war es für die deutschsprachige Bevölkerung nie ein politisches
Problem, dass die Stadt nahe des deutsch-tschechisch-polnischen Dreiländerecks
bis 1918 zu Österreich-Ungarn und dann bis 1938 zur Ersten Tschechoslowakischen
Republik gehörte. Den großen Knackpunkt für die böhmischen Länder deutscher
Sprache und damit auch für Gablonz an der Neiße stellte das Jahr 1938 dar, in
dem auf der Münchner Konferenz die sudetendeutschen Gebiete an das Deutsche
Reich angegliedert wurden, was für Hitler förmlich der Startschuss zur
"Zerschlagung der Resttschechoslowakei" war. Nach dem Kriegsende 1945
waren die viel diskutierten
"Benes-Dekrete" für die tschechische Seite
eine Legitimation zur Vertreibung der deutschstämmigen Bevölkerung aus Böhmen.
Betroffen davon war nahezu auch die ganze Bevölkerung von Gablonz an der Neiße.
Soweit die Chronologie der Ereignisse, die auch den meisten von Ihnen, liebe
Hörerinnen und Hörer, aus dem Geschichtsunterricht bekannt sein dürfte. Die
eigentliche Besonderheit ereignete sich erst nach der Vertreibung: Während sich
in allen anderen Städten die Flüchtlinge in allen Windrichtungen des zerstörten
Deutschlands verstreuten, kamen viele Leute aus Gablonz wieder zusammen. Es
sprach sich unter den Vertriebenen wie ein Lauffeuer herum, dass in der Nähe von
Kaufbeuren auf Betreiben der bayerischen Staatsregierung die berühmte Glas- und
Schmuckindustrie in einer Vertriebenensiedlung eine neue Heimat finden sollte,
die später den Namen Neugablonz bekam. Elisabeth Vitze, 85 Jahre und folglich im
Alter von 25 Jahren aus Gablonz vertrieben, wohnt heute in Neugablonz und ist
Zeitzeugin dieser Ereignisse:
"Das besondere ist hier in Neugablonz, dass sich der größte Teil
der Bevölkerung von Alt-Gablonz und Umgebung zusammengefunden hat, es sind auch
andere Flüchtlinge zu uns gestoßen, z.B. viele Schlesier. Somit sind wir in
Deutschland die größte Flüchtlingssiedlung."
Der heutige tschechische (Alt-) Gablonzer Dekan Antonin
Bratrsovsky, der sich ebenso wie Elisabeth Vitze seit Jahren für eine Aussöhnung
zwischen Deutschen und Tschechen einsetzt und einen regen Kontakt mit Neugablonz
pflegt, fügt hinzu:
"Ich denke, es gibt dort noch lebendige Wurzeln der
Vertreibung, denn die Entstehung von Neugablonz ist etwas Einzigartiges in der
Vertriebenengeschichte. Die Sudetendeutschen, die Gablonz nach dem zweiten
Weltkrieg verlassen mussten, konnten in Deutschland eine neue Existenz in
Anlehnung an ihre alte Heimat aufbauen."
Viele heimatlos gewordene Gablonzer strömten also zum Ende der
vierziger und im Laufe der fünfziger Jahre ins Voralpenland, wo in der Nähe von
Kaufbeuren eine neue Stadt im Entstehen war. Die armseligen Baracken einer
ehemaligen Munitionsfabrik, in denen die Vertriebenen zuerst hausten, zogen
anfangs nur wenige an, doch da die Schmuck- und Glasindustrie erneut für einen
rasanten Wirtschaftsaufschwung sorgte, wuchs die Vertriebenensiedlung in den
fünfziger Jahren beständig an. Auch Elisabeth Vitze siedelte sich mit ihrem Mann
schließlich in Neugablonz an. An die ersten Erlebnisse in der neuen Heimat
erinnert sie sich noch sehr gut:
"Als ich 1958 von Württemberg nach Gablonz zog, weil wir
dort ein Haus gebaut hatten, da war es das schönste, dass man auf der Straße
oder im Laden überall hörte: Bist du nicht die, ach ja, richtig. Grüß Gott.
Willkommen. Man hat sehr viele bekannte Gesichter getroffen und fühlte sich
sofort wie zu Hause. Die Menschen bilden sich ja schnell wieder eine Heimat,
wenn sonst nichts übrig geblieben ist."
Das Wirtschaftswunder konnte bei vielen Vertriebenen zwar
die Wunden über den Verlust der alten Heimat nicht heilen, doch der schnell
erlangte Reichtum dank der florierenden Glasindustrie war für viele wenigstens
ein kleiner Trost. Einen letzten Kampf hatten die Neugablonzer allerdings noch
auszufechten - die Umbenennung ihres Stadtteils, der ursprünglich
Kaufbeuren-Hart hieß. Elisabeth Vitze beschreibt diese Entwicklung aus ihren
Erinnerungen:
"Ein langer Weg bis Neugablonz, das heißt auch ein langer Weg bis
zur Bezeichnung des Namens Neugablonz. Aus Prag wurde interveniert, dass man den
Stadtteil Neugablonz nennen sollte. Insgesamt hat diese Umbenennung sechs
zermürbende Jahre gedauert. Damals war Georg Volkardt Bürgermeister von
Kaufbeuren und stellte Anfang 1947 den Antrag, unseren Stadtteil Kaufbeuren-Hart
zu nennen. Damit waren die Gablonzer natürlich nicht zufrieden. Im August 1949
hat der Siedlerausschuss aus Kaufbeuren den Stadtrat erneut um eine Umbenennung
gebeten. Aufgrund dieses neuerlichen Antrags kam es dann am 20. Mai 1952 zu
einer denkwürdigen Stadtratssitzung, in welcher die Versammelten geschlossen für
die Umbenennung von Kaufbeuren-Hart in Kaufbeuren-Neugablonz stimmten. Im Namen
alteingesessener Stadtratsmitglieder wurde eine Erklärung verlesen, dass die
Umbenennung nur aus wirtschaftlichen Gründen erfolge und keine anderen Absichten
damit verbunden sein. Am 8. August 1952 signalisierte schließlich auch das
bayerische Innenministerium grünes Licht für den neuen Namen."
Doch nicht nur der Name erinnert heute an die alte Heimat im
Isergebirge. Die Herz-Jesu Kirche in Neugablonz wurde analog zu der Herz-Jesu
Kirche im heute tschechischen Gablonz gebaut, dazu kaufte die Stadt Kaufbeuren
dem tschechoslowakischen Staat einige Denkmäler ab, wie z.B. den
Rüdiger-Brunnen, und stellte sie in Neugablonz wieder auf. Vertriebenenmahnmäler
und ein Isergebirgsmuseum ergänzen das Stadtbild, in dem auch dem Briefträger
tagtäglich die besondere Geschichte der ehemaligen Vertriebensiedlung vor Augen
geführt wird: Die Straßen wurden nämlich nach den Stadtteilen von Alt-Gablonz
und den umliegenden Bergdörfern benannt. Für Elisabeth Vitze schließt sich hier
der Kreis:
"Natürlich wollte man möglichst viel mit herüberbringen, das an die
alte Heimat erinnert. Da liegt es auf der Hand, dass die Vertriebenen die
Straßennamen so gewählt haben."
Was vielleicht auf den ersten Blick wie ein kleines
Happy-End einer leidvollen Geschichte klingt, trügt jedoch. Der Alt-Gablonzer
Dekan Antonin Bratrsovsky stößt bei seiner Versöhnungsarbeit zwar überwiegend
auf ein positives Echo, wenn er für Vertriebene, die der alten Heimat einen
Besuch abstatten, die Tore seiner Pfarrei und der Herz-Jesu Kirche öffnet. In
der Entstehung von Neugablonz sieht er aber trotz aller positiven Seiten auch
einen gravierenden Nachteil:
"Die Tatsache, dass so viele Vertriebene aus einer Stadt
wieder zusammengefunden haben, hat auch eine Kehrseite der Medaille: Natürlich
half Ihnen diese Gemeinschaft beim Aufbau einer neuen Existenz in Bayern, aber
die Verbitterung über die Vertreibung und die damit verbundene Ablehnung einer
Versöhnung mit uns Tschechen ist nach meinen Erfahrungen dort viel mehr
ausgeprägt als irgendwo anders in Deutschland, wo Vertriebene verstreut
leben."
Dieselbe Meinung vertritt auch die Neugablonzerin Elisabeth
Vitze, die sich mit ihrem 13-jährigen Engagement im Stadtrat von Kaufbeuren für
eine gute Partnerschaft zwischen den beiden Städten nicht nur Freunde gemacht
hat:
"Es gibt ja sehr viele Neugablonzer, die auch heute noch
auf die Tschechen schimpfen - für mich sind das unreife Menschen. Ich denke, man
muss sich im Leben immer mit dem Gegebenen abfinden. Erst dann lebt man besser.
Ich bin mindestens jedes zweite Jahr, in letzter Zeit sogar jährlich, nach
Alt-Gablonz gefahren. Schon seit über zehn Jahren besuche ich die
Tschechischkurse der Ackermanngemeinde, damit ich mich besser in der alten
Heimat verständigen kann."
Die heute 85-jährige ist überzeugt davon, dass die
bestehende Partnerschaft zwischen Neugablonz und dem tschechischen Gablonz in
eine rosige Zukunft blickt:
"Ich denke, dass das ein Generationenproblem ist. Das
wird sich ganz von alleine lösen, wenn die älteren Bewohner von Neugablonz
gestorben sind. Denn viele von Ihnen können einfach nicht vergeben. Es gibt sehr
wenige hier, die so denken wie ich. Ich habe in dieser Sache ganz andere
Ansichten, ich wünsche mir, dass wir mit der jungen Bevölkerung in Alt-Gablonz
einen guten Kontakt aufbauen."
Neugablonz hat etwa 18 000 Einwohner und trägt heute
übrigens immer noch das Image als Anlaufpunkt für Heimatlose, wenn auch mit
einem ganz anderen Hintergrund: In den letzten Jahren hat sich der Stadtteil von
Kaufbeuren zu einem - nicht immer konfliktfreien - Zentrum für russische
Spätaussiedler entwickelt. Die berühmte "Gablonzer Bijouterie" fiel in
der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts allerdings weitgehend der
Billigkonkurrenz aus Asien zum Opfer.
Source: Czech Radio 7, Radio Prague
URL:
http://www.radio.cz/de/artikel/71457
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