[24.09.2005] - Kapitel aus
der Tschechischen Geschichte - Katrin Bock
Das Münchner Abkommen und die sudetendeutschen
Sozialdemokraten
Ende September 1938 fand in München eine Konferenz
statt, die über die Zukunft der Tschechoslowakei entschied. Die Mehrheit der
damals in der Tschechoslowakei lebenden Deutschen wollte an das Deutsche Reich
angeschlossen werden. Ihr Wunsch wurde auf jener Konferenz erfüllt. An die
Sudetendeutschen, die gegen den Anschluss an das Dritte Reich waren, erinnert im
nun folgenden Kapitel aus der tschechischen Geschichte Katrin Bock.
60 Jahre nach Kriegsende hat sich die
tschechische Regierung endlich durchgerungen, sudetendeutsche Gegner des
Nazi-Regimes zu würdigen. Deren Stellung war nie einfach, standen und stehen sie
doch zwischen allen Lagern. Auf tschechischer Seite störten sie das Bild der
bösen Nazi-Deutschen, auf deutscher Seite wiederum passte ihr Einsatz für den
Erhalt der Vorkriegstschechoslowakei nicht in das verbreitete Bild einer
Republik, die wegen ihrer angeblich antideutschen Einstellung abgelehnt werden
sollte. Zu denjenigen, die sich 1938 für den Erhalt der Tschechoslowakei
einsetzten, gehörten überzeugte Christen, vor allem Katholiken, Kommunisten und
Sozialdemokraten. Im Folgenden wollen wir insbesondere an eine Gruppe erinnern -
an den sozialdemokratischen Arbeiterturnverband, über den der Historiker Thomas
Oellermann forschte.
In der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit gab es ebenso
wie in der Weimarer Republik eine breite Parteienvielfalt und das tschechisch,
slowakisch und deutsch: von den Kommunisten und Sozialdemokraten über die
christlichen Parteien bis hin zu Agrariern und nationalistischen Parteien. Alle
diese Parteien hatten auch ihre verschiedensten Verbände und Vereine, wie Thomas
Oellermann am Beispiel der Sozialdemokraten erläutert:
"Neben der Partei, der
DSAP - der deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in der Tschechoslowakei
gab es auch ganz typisch Gewerkschaften, Genossenschaften, und eben auch ein
reichhaltiges Verbandswesen, z.B. Turn- und Sportvereine, Bildungsvereine,
Theatergruppen, ja und eigentlich alles, was so die Freizeit der Arbeiterschaft
betrifft. Der Sozialdemokratie gehörten hauptsächlich tatsächlich Arbeiter an,
das waren schätzungsweise bis zu 90 Prozent der Mitgliedschaft. Nur in ganz
geringen Gruppen waren es vielleicht Lehrer oder auch Angestellte. Aber den
Hauptteil bildete die nordböhmische und westböhmische Arbeiterschaft."
Als die Tschechoslowakei Ende Oktober 1918 entstand, standen
ihr die meisten sudetendeutschen Sozialdemokraten eher ablehnend gegenüber.
Diese Einstellung änderte sich mit der Zeit:
"Das war für 20er Jahre sehr problematisch, es gab
verschiedene Kritikpunkte der Arbeiterturner am tschechoslowakischen Staat, ein
zentraler Punkt war die Subventionierung der Tätigkeit: das meiste Geld bekam
letztendlich der tschechoslowakische Sokol und die Arbeiterturner und gerade die
deutschen Arbeiterturner bekamen deutlich weniger, und das wurde in den 20er
Jahren auch sehr deutlich kritisiert. So und das ganze ändert sich 1929, weil
hier deutsche und tschechische Sozialdemokraten in die Regierung eintreten, und
so wird natürlich auch das Verhältnis der deutschen sozialdemokratischen
Arbeiterturner anders und ab 1929 wird die Kooperation zwischen deutschen und
tschechoslowakischen Arbeitertunern und Sozialdemokraten eindeutig besser. Sie
arbeiten zusammen und versuchen zusammen auch, Mittel zu finden, um der
Bedrohung, die sich von außen aufbaut, irgendwie entgegen zu wirken."
Die Zusammenarbeit zwischen deutschen und tschechischen Turnern nahm
mit der zunehmenden Bedrohung ebenfalls zu, dazu noch einmal Thomas Oellermann:
"Mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus in Deutschland
wurde eigentlich im umgekehrten Sinne das Verhältnis zwischen deutschen und
tschechischen Sozialdemokraten besser, denn unter dem Eindruck der äußeren aber
auch inneren Bedrohung, denn schließlich haben ja auch nationalistische
sudentedeutsche Kräfte an Zulauf gewonnen, kooperierte man mehr, es gab mehr
gemeinsame Veranstaltungen. Das schlägt sich ganz genau bei diesen Verbänden
nieder. Während sich die beiden sozialdemokratischen Parteien, die deutsche und
die tschechoslowakische nicht so wirklich nahe kamen, kann man z.B. für die
Arbeiterturner sagen, dass sie sehr stark kooperierten, das ging dann 1938 sogar
soweit, dass man für den Sommer 38 gemeinsame Ferienaktionen für Kinder plante.
Also je stärker die Bedrohung wurde, desto besser wurde die Zusammenarbeit."
Ab Frühsommer 1938 spitzte sich die Situation in den
Sudetengebieten immer mehr zu - immer öfter kam es zu gewalttätigen
Auseinandersetzungen zwischen Henlein-Anhängern und ihren Gegnern. Während
erstere einen Anschluss an das Dritte Reich forderten, setzten sich ihre
Widersacher für den Erhalt der Republik ein.
"Man hat bis zuletzt höchste Kampfbereitschaft eigentlich
demonstriert, und Kampfbereitschaft meinte jetzt nicht nur die politische
Agitation unter den Arbeitern oder unter der deutschen Bevölkerung der
Tschechoslowakei, sondern meinte auch wirklich Kampf, denn die Sozialdemokraten
waren auch beteiligt an einer Organisation, das war früher die Rote Wehr und sie
wurde später umbenannt in die Republikanische Wehr, und diese war wirklich eine
Organisation, die mit Waffen versuchte die Republik zu schützen oder auch die
Grenzen der Republik zu schützen. Es gab gewalttätige Auseinadersetzungen, zum
Beispiel auf Turnfesten, aber auch auf Veranstaltungen der deutschen
sozialdemokratischen Partei zwischen Sozialdemokraten und sudetendeutschen
Nationalisten oder Nationalsozialisten. Hierbei waren die Sozialdemokraten
diejenigen, die die Republik im Endeffekt verteidigt haben."
Kann man sich das wirklich vorstellen, dass die mit einer
Waffe in der Hand da waren?
"Es gibt Photos wo man wirklich z.B. die Mitglieder
dieser Republikanischen Wehr sieht, die sitzen auf einem LKW mit Gewehren in der
Hand - und auf dem LKW steht "Wir schützen die Grenzen der Republik". Also
ich denke schon, dass die deutschen Sozialdemokraten sehr kampfbereit waren. Und
um noch mal auf die Turner zurückzukommen, diese Arbeitersportler. Die haben in
ihrer aktuellsten Fassung aus dem Jahre 1937 sogar den Schiesssport und den
Wehrsport in ihre Satzung aufgenommen: Sie haben es also als eine Aufgabe ihres
Verbandes verstanden, ihre Mitglieder in Schiessen zu unterrichten, also eine
ganz klare Ansage dahingehend, dass sie die Republik verteidigen wollen notfalls
auch mit der Waffe in der Hand.
In den letzten Gemeindewahlen im Mai und Juni
1938 erhielt die Sudetendeutsche Partei von Konrad Henlein 90% der deutschen
Stimmen. Dieser hatten sich inzwischen die anderen deutschen Parteien
angeschlossen, mit Ausnahme der Sozialdemokraten, die 10 Prozent der Stimmen
erhielten. Nach heftigen Ausschreitungen im Sudetengebiet verbot die Prager
Regierung am 16. September die Sudetendeutsche Partei. In dieser äußerst
angespannten Zeit rief der Vorsitzende der deutschen Sozialdemokratischen Partei
der Tschechoslowakei, Wenzel Jaksch Deutsche und Tschechen zu Besonnenheit auf:
"Das Gebot der Stunde ist Besinnung. Lassen wir uns nicht
einreden, dass das eine Volk nur aus Teufeln besteht und das andere nur aus
Engeln. Ob uns eine deutsche oder eine tschechische Mutter geboren hat,
vergessen wir nicht, dass wir auch Menschen sind. Um jeden Toten weint eine
Mutter. Lassen wir nicht zu, dass künstlich erzeugte Giftschwaden des Hasses das
Land überfluten und die Sonne des Friedens verdunkeln."
Zwei Wochen später trafen sich in München die führenden vier
europäischen Politiker, um eine Ausweitung der Krise in der Tschechoslowakei zu
vermeiden. Die beste Lösung sahen sie in der Abtretung der überwiegend von
Deutschen besiedelten Grenzgebiete der Tschechoslowakei an das Dritte Reich.
Konrad Henlein und seine Anhänger konnten sich Anfang Oktober 1938 freuen:
"So kam die Zeit da der Führer uns heimholte und heimrief in das
große deutsche Vaterland - heil, heil- Am 10. dieses Monats ist das ganze
sudetendeutsche Gebiet besetzt - heil, heil - am 10. dieses Monats ist unsere
sudetendeutsche Heimat Teil des Reiches geworden - heil"
Für die sudetendeutschen Sozialdemokraten kam das Ende, dazu
noch einmal der Historiker Thomas Oellermann:
"1938 ist eigentlich der Zusammenbruch dieser
Verbandsstrukturen. Denn da sich die Tschechoslowakei als Staat nicht wehrt,
wehren sich auch die deutschen Sozialdemokraten nicht. Ja, es ist der wirkliche
Zusammenbruch: Also alle Sportstätten, die im Besitz dieser Arbeiterturner
waren, werden konfisziert und der ganze Besitz dieser Verbände wird
beschlagnahmt. Und letztendlich bleibt für eine gewisse Zahl von führenden
Funktionären nur die Flucht oder das Exil, zuerst natürlich nach Prag, also in
diesen Reststaat, und dann darüber hinaus gehend ein Jahr später noch weiter
nach Paris, London, usw.. Für die breite Masse der Mitgliedschaft bleibt eben
nur übrig, sich irgendwie anzupassen, Widerstand auszuüben oder zu gucken, in
irgendeiner Form zu überwintern."
Noch im Oktober 1938 wurden die ersten schätzungsweise
20.000 Gegner des Dritten Reiches im Sudetengau verhaftet, ihnen sollten in den
folgenden sechs Jahren Tausende folgen. Es wird geschätzt, dass über 15.000
sudetendeutsche Sozialdemokraten und 7.000 Kommunisten während des Zweiten
Weltkriegs verhaftet wurden, mindestens 450 von ihnen wurden hingerichtet.
Source: Czech Radio 7, Radio Prague
URL:
http://www.radio.cz/de/artikel/70945
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