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"Die Frage lautet: Wie konnte es passieren?"

Für Kinder in Deutschland sind es bittere Themen. Wie überall auf der Welt würden sie gerne an das Gute glauben, sich mit Heldinnen und Helden aus der eigenen Geschichte identifizieren. Stattdessen müssen sie in die tiefsten Abgründe des 20. Jahrhunderts blicken und darin auch eigene Geschichte erkennen. Sie haben einen Anspruch auf Erklärungen durch die ältere Generation und auch darauf, in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nicht alleine gelassen zu werden.

Nicht alles läßt sich dabei in Worte fassen. Noch heute, 60 Jahre nach der Katastrophe, sind das Leid, der Schmerz und die Erniedrigung der Opfer kaum zu ermessen. Deutschland hat alle seine Nachbarn mit Ausnahme der Schweiz überfallen und gegen Polen, die Sowjetunion und andere Länder einen verbrecherischen Vernichtungskrieg geführt. Auch für Kinder am schlimmsten aber ist die Auseinandersetzung mit dem Holocaust.

Hat Gott sein Gesicht abgewandt?

Wie geht man als Kind damit um, wenn Auschwitz für immer in die Geschichte der eigenen Nation eingeschrieben werden muss? Wie verkraften Kinder, dass Millionen Menschen dem monströsen, kaltblütig geplanten Massenmord der Nazis zum Opfer gefallen sind: Jüdinnen und Juden – vor allem sie, aber auch Sinti und Roma, Homosexuelle, Behinderte, Kriegsgefangene, Oppositionelle und viele andere Menschen aus Deutschland und Europa. Sie alle wurden auf deutschen Befehl und durch Deutsche barbarisch gequält, durch Zwangsarbeit oder pseudo-medizinische Experimente brutal ermordet, exekutiert und vergast. Die Entdeckung dieses Grauens ist für jedes Kind jeweils eine individuelle, tief beunruhigende Erfahrung.

Schüler werden im Verlauf ihrer Schulzeit in den meisten Fällen nicht nur im Geschichtsunterricht darüber sprechen, sondern auch im Deutsch-, Gemeinschafts- oder Religionsunterricht, wahrscheinlich sogar mehrfach. Wo der Unterrichtsstoff sich dem Verstehen entzieht, werden sie selber Fragen stellen, an ihren Eltern und Großeltern, ihre Freunde und Geschwister.

Fragen, wie sie zum Beispiel von Elie Wiesel am 24. Januar 2005 vor den Vereinten Nationen anläßlich des Gedenktages an Auschwitz gestellt wurden. Was hätte aus den ermordeten jüdischen Kindern nicht alles werden können? Vielleicht wäre ein Nobelpreisträger unter ihnen gewesen, der ein Mittel gegen den Krebs erfunden hätte? Vielleicht hätte ein anderer wunderbare Gedichte geschrieben. Für Elie Wiesel war der Mord an den Kindern das Schlimmste: "Immer waren sie die ersten, die ergriffen und in den Tod geschickt wurden. Wollte ich allein ihre Namen aufsagen, die Moischele, die Jankele, die Sodele, wollte ich allein ihre Namen rezitieren, ich stünde Monate und Jahre hier …". Kaum ein Kind wird das Zitat kennen – kaum ein Kind wird aber nicht selber auf den gleichen Gedanken gekommen sein. „Hat Gott sein Antlitz abgewendet?“ fragt Wiesel weiter. Wie konnte es sein, dass Deutsche Kinder und Greise mit Maschinengewehren niedermähten und danach wieder Gedichte von Schiller lasen und Partiten von Bach hörten?

Unsere Geschichte verpflichtet uns

Auf diese Fragen gibt es keine abschliessenden Antworten, keine Argumente, mit denen sich ein Schlußstrich ziehen liesse. Wie spricht man darüber als Lehrer mit seinem Schüler, wie als Vater oder Mutter mit seinem Kind? Ob man will oder nicht: Die Erwiderung des Erwachsenen wird ebenfalls höchstpersönlich sein.

 

Trotzdem haben Kinder auch Anspruch auf Antworten. Welche Lehren wurden aus den Nazi-Verbrechen gezogen?

Aus heutiger Sicht kann es nicht darum gehen, die Kinder mit einer Schuld zu konfrontieren -selbstverständlich trifft sie keine. Hier helfen auch nicht oft wiederholte, zweifelhafte Betroffenheitsrituale. Es geht um die Übernahme politischer Verantwortung für Gegenwart und Zukunft.

Die Bundesrepublik Deutschland ist von der historisch-moralischen Verantwortung für Auschwitz geprägt. Bei ihrer Gründung 1949 hat sie die Unverletzbarkeit der Menschenwürde 1949 zum Fundament der Staatsordnung gemacht: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt" heißt es im ersten Artikel des Grundgesetzes. Unsere Geschichte verpflichtet uns, jede Form von Antisemitismus, aber auch Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz zu ächten und zu bekämpfen.

Keine Selbstverständlichkeit

Vertrauensbildung und Versöhnung durch Annäherung und enge Zusammenarbeit – das ist auch die Antwort Europas auf die Katastrophe der Shoa und des Zweiten Weltkriegs. Dass wir gerade mit unseren östlichen Nachbarn seit Mai 2004 Partner in einer immer enger zusammenwachsenden Europäischen Union sind, ist für uns von besonderer Bedeutung.

Weil ein Völkermord nie unvermittelt geschieht, müssen wir schon seine Vorboten bekämpfen. Wir müssen uns Krieg, Bürgerkrieg und der Missachtung der Menschenrechte, aber auch totalitären Ideen, Hasspropaganda und Gewaltverherrlichung entschlossen entgegenstellen. Dass die Shoa im 20. Jahrhundert mitten in Europa und durch Deutsche verantwortet möglich war, muss uns immer Mahnung sein: Eine aufgeklärte, tolerante und offene Gesellschaft ist keine Selbstverständlichkeit. Für ihren Erhalt müssen wir uns jeden Tag einsetzen.

Michael Libal
Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Tschechien
erschienen am 6. Mai 2005 in Hospodáøské noviny

 

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