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Wir leben nicht mehr im Zeitalter von Jalta und Potsdam,
wir leben im Zeitalter von Helsinki und Maastricht

 

Der 60. Jahrestag des Kriegsendes weckt sehr unterschiedliche Empfindungen, nicht zuletzt bei uns Deutschen. Wir würdigen mit einem Gefühl der Erleichterung die Befreiung auch Deutschlands vom Nationalsozialismus, aber wir tun dies natürlich post factum und in der bitteren Erkenntnis, dass trotz einiger mutiger Versuche die Deutschen selbst nichts zu ihrer eigenen Befreiung beigetragen haben. Wir trauern um die Opfer des Krieges und gedenken dabei vor allem derjenigen, die dem systematischen Massen- und Völkermord zum Opfer gefallen sind, auch auf tschechischem Boden. Wir erinnern uns mit Abscheu an die dafür Schuldigen, die so viel Schande über das deutsche Volk gebracht haben. Wir blicken aber auch mit Stolz und Befriedigung auf den Weg zurück, den Deutschland und Europa in den letzten 60 Jahren zurückgelegt haben, auch wenn der östliche Teil Europas diesen Weg erst seit 15 Jahren mitgehen konnte. Betreten haben wir diesen Weg unter dem militärischen Schutz der Vereinigten Staaten und inspiriert von dem politischen Weitblick, den diese nach ihrem Sieg bewiesen haben. Unsere immer währende Dankbarkeit gegenüber den Amerikanern können auch vorübergehende Meinungsverschiedenheiten mit dieser oder jener Administration nicht beeinträchtigen.

Der Rückblick auf den 8. Mai 1945 sollte also keinesfalls die Sicht von dem Weg ablenken, den Europa seitdem zurückgelegt hat. Wir leben nicht mehr im Zeitalter von Jalta und Potsdam, wir leben im Zeitalter von Helsinki und Maastricht. Die Schlussakte von Helsinki, die Charta von Paris, der Vertrag von Maastricht und seine Folgeverträge, sie bestimmen heute die Beziehungen zwischen den Staaten und Völkern Europas. Wer nur auf die wirklichen oder angeblichen „Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges“ fixiert ist und alles stets nur mit der Elle von 1945 misst, übersieht unbewusst oder absichtlich die Wandlungen, die gerade in den letzten vierzig Jahren in Europa eingetreten sind und die Deutschland wesentlich mitgestaltet hat. Nicht die politischen Absprachen zwischen den Alliierten im Jahre 1945, die im Zeichen des Kalten Krieges ohnehin sehr bald überholt waren, prägen heute die politische Landschaft Europas sondern die vielfältigen bilateralen und multilateralen Verträge, die Deutschland mit den Gegnern von einst und Partnern von heute abgeschlossen hat, nicht zuletzt auch mit der Tschechischen Republik.

Diese Verträge stellen die eigentliche Kodifizierung der Folgen des Zweiten Weltkrieges dar und, weil der Blick nunmehr in die Zukunft gerichtet werden konnte, zugleich ihre Überwindung. Ihr Kern ist die Festschreibung des territorialen Ergebnisse des Krieges, d.h. der Verzicht darauf, durch fortgesetzte Infragestellung der Grenzen den Spannungszustand zu verlängern, der seit 1905 fast ununterbrochen in Europa geherrscht hatte. Eine solche Entscheidung war zum damaligen Zeitpunkt, vor 35 Jahren, nicht selbstverständlich, und Deutschland selbst hat zwanzig Jahre benötigt, um sich dazu durchzuringen. Aber erst diese Entscheidung hat den Abschluss der Schlussakte von Helsinki im Jahre 1975 ermöglicht, mit der die sowjetische Herrschaft über Osteuropa definitiv in die ideologische Defensive gedrängt wurde, nicht zuletzt deshalb, weil das Schreckgespenst des deutschen „Revanchismus“ damit seine letzte Glaubwürdigkeit verlor. Der Wandel der sowjetischen Außenpolitik unter Gorbatschow und Schewardnadse, die Überwindung der Teilung Europas und die deutsche Wiedervereinigung im Jahre 1990 waren natürliche Früchte dieser Politik.

Dass wir Deutschen uns mit den enormen territorialen Verlusten und mit der erzwungenen und verlustreichen Umsiedlung eines Fünftels unserer Bevölkerung abfanden, wirkte um so glaubwürdiger, als Deutschland inzwischen fest in das multilaterale Geflecht der westlichen Staatengemeinschaft eingebunden war. Die verhältnismäßig rasche Rehabilitierung Deutschlands als Partner in der wirtschaftlichen und politischen Integration des Westens machte über kurz oder lang den Ausgleich mit den östlichen Nachbarn unausweichlich, beschleunigte und erleichterte ihn aber auch erheblich. Am Beginn dieser Integration standen die Bemühungen um die Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland, deren Erfolg eine enorme psychologische und politische Bedeutung für das Verhältnis Deutschlands zum übrigen Europa gehabt hat, was Kritiker der so genannten „deutsch – französischen Achse“ nicht vergessen sollten. Ohne diese entschlossene Überwindung der historischen Antagonismen in Westeuropa wäre die spätere, verhältnismäßig rasche und problemlose Einbeziehung der ehemaligen Mitgliedsstaaten des Warschauer Pakts in NATO und EU kaum denkbar gewesen. Es waren in erster Linie wir Deutschen, die an dieser Erweiterung der westlichen Staatengemeinschaft ein vitales Interesse hatten. So wie wir in den 50er Jahren der Versuchung des Neutralismus zugunsten der Verankerung im Westen widerstanden hatten, so verbanden wir in den 90er Jahren mit der deutschen Einigung von vorne herein ein gesamteuropäisches Projekt. Es galt nicht nur, die europäische Integration weiter zu vertiefen, sondern auch zu verhindern, dass das vereinigte Deutschland den östlichen Grenzpfeiler der westlichen Staatengemeinschaft markieren und Ostmitteleuropa sich in eine Grauzone der internationalen Politik verwandeln würde. Deutschland sollte natürlich wieder in die Mitte Europas rücken, aber nicht mehr eines Europa rivalisierender Nationalstaaten, sondern einer fast den ganzen Kontinent umfassenden wirtschaftlich und politisch integrierten Gemeinschaft.

All diese Entwicklungen müssen vor dem Hintergrund der intensiven und schmerzhaften Auseinandersetzung mit unserer jüngsten Vergangenheit gesehen werden. Sie setzte nicht zufällig in der Dekade vor dem Beginn der so genannten „Ostpolitik“ ein und hat keine Institution und kaum eine Familie unberührt gelassen. Wie die jüngsten Diskussionen zeigen, hat sie auch bei weitem noch keinen Abschluss gefunden, sondern strebt im Zeichen des 60. Jahrestages des Kriegsendes einem neuen Höhepunkt zu. Dass viele Deutsche hierbei auch wieder einmal der eigenen Opfer gedenken, die ja nicht automatisch und nicht einfach kollektiv schuldig waren, hat nichts mit einem angeblichen „Umschreiben der Geschichte“ zu tun, zumal es in der Geschichtsschreibung ohnehin keine nationalen oder ideologischen Dogmen geben kann. Wer sich mit der Vergangenheit aussöhnen will , muss sich erst einmal mit allen ihren Aspekten vertraut machen. Die wissenschaftliche und in ihrem Gefolge publizistische Aufarbeitung der nationalsozialistischen Epoche in der deutschen Gesellschaft hat bei anderen Nationen in Europa, allerdings nicht gleichermaßen bei allen, die Bereitschaft gefördert, ihrerseits das eigene Verhalten im Zweiten Weltkrieg und danach zu thematisieren, und zwar auch durchaus selbstkritisch. Eine solche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist und bleibt kein Selbstzweck. Sie ist vielmehr die unerlässliche Voraussetzung dafür, den Ausgleich und die Zusammenarbeit zwischen den Gegnern von einst auch in den emotionalen Beziehungen zwischen den Völkern zu verankern.

Michael Libal
Deutscher Botschafter in der Tschechischen Republik
erschienen am 5. Mai 2005 in Mladá fronta Dnes

 

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