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Interview mit Bundeskanzler Schröder zum 1. Jahrestag des EU-Beitritts Tschechiens
HN: Herr Bundeskanzler, vor exakt einem Jahr fand die größte und auch teuerste Erweiterung der Europäischen Union in der Geschichte der europäischen Integration statt. Nach zwölf Monaten kann man schon eine gewisse Bilanz ziehen. Also: Was hat die EU-Osterweiterung, Ihrer Meinung nach, Europa und Deutschland gebracht? Wir begehen in diesen Tagen nicht nur den ersten Jahrestag der Erweiterung, sondern wir erinnern uns auch an das Ende des Zweiten Weltkrieges. Diesem Krieg sind Millionen Menschen zum Opfer gefallen, und in seiner Folge wurde Europa durch Mauer, Stacheldraht und Eisernen Vorhang geteilt. Vor diesem Hintergrund hat sich am 1. Mai 2004 durch den Beitritt der zehn Staaten zur Europäischen Union eine historische Mission erfüllt: Europa hat seine schmerzliche Trennung überwunden. Darin vor allem liegt die bleibende Bedeutung dieses Datums. Wir alle profitieren von der vor einem Jahr erfolgten Erweiterung der Europäischen Union um neue demokratische und wirtschaftlich dynamische Mitglieder. Darin liegt die Chance, unser europäisches Gesellschaftsmodell, das wirtschaftliche Stärke mit sozialer Solidarität verbindet, auch im Zeitalter der Globalisierung zu erhalten und zu festigen. Das wird uns aber nur gelingen, wenn wir dafür sorgen, dass wirtschaftliche Konkurrenz zu fairen Wettbewerbsbedingungen stattfindet, und zwar sowohl innerhalb Europas als auch weltweit. Dafür brauchen wir ein Europa, dass nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch weiter zusammenwächst.
HN: Viele Menschen, gerade in Ihrem Land, haben befürchtet, mit dem Beitritt von zehn neuen Mitgliedsstaaten werde die Kriminalität steigen. Die deutschen Autobahnen werden LKWs aus dem Osten überfluten, die Menschen verlieren ihre Jobs. Ist es – oder etwas davon – tatsächlich passiert? Einen Anstieg der Kriminalität infolge der Erweiterung haben wir nicht festgestellt. Es ist vielmehr so, dass der Beitritt neue Möglichkeiten eröffnet hat, zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität besser zusammenzuarbeiten. Diese Möglichkeiten werden jetzt genutzt. Im LKW-Verkehr hat der Beitritt unserer Nachbarn Tschechien und Polen eine spürbare Erleichterung für die Bürgerinnen und Bürger unserer Grenzgemeinden gebracht: Tschechien und Polen wurden in den gemeinsamen Binnenmarkt einbezogen, Zollformalitäten wurden abgeschafft, so dass die LKW-Staus an unseren Grenzen der Vergangenheit angehören.
HN: Obwohl Sie vor allem positive Seiten der EU-Osterweiterung hervorheben, hatte sie auch negative Auswirkungen. Nach Deutschland ist zum Beispiel billige Arbeitskraft aus den neuen EU-Ländern gekommen, die bei Ihnen im Rahmen der EU-Dienstleistungsfreiheit ihre Arbeit anbietet. Um es einzugrenzen, will jetzt die Bundesregierung einen Mindestlohn einführen. War es also doch ein Fehler, dass Sie vor dem 1. 5. 2004 nicht auf den strengeren Übergangsfristen für die Anbieter der Dienstleistungen aus den neuen EU-Ländern bestanden haben? Meiner Regierung ist es gelungen, zum ersten Mal in einem Beitrittsvertrag Übergangsfristen sowohl bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit als auch bei der Dienstleistungsfreiheit zu verankern. Ich halte dies im Sinne fairer Wettbewerbsbedingungen weiterhin für richtig und gerechtfertigt. Die Probleme, die wir derzeit in Deutschland in manchen Bereichen haben, resultieren aus einem Missbrauch von Regeln. Die Bundesregierung beabsichtigt daher, das Arbeitnehmer-Entsendegesetz über den Baubereich hinaus auszuweiten. Damit können diejenigen Arbeitsbedingungen, welche auch für jeden inländischen Arbeitgeber verbindlich sind, zukünftig auch auf ausländische Entsendebetriebe erstreckt werden. Zur Bekämpfung des Missbrauchs der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit haben wir eine besondere Gruppe gebildet, welche die Einhaltung von Recht und Ordnung am Arbeitsmarkt sicherstellen soll. In dieser Frage stehen wir auch in einem engen Dialog mit den europäischen Partnern.
HN: Die Wahrscheinlichkeit, dass Deutschland die Übergangsfristen für die Freizügigkeit der Arbeitskräfte früher als in 6 Jahren abschafft, ist in diesem Kontext – angesichts der gegenwärtigen Debatte über das Lohndumping – wahrscheinlich eher unrealistisch, oder? Die Übergangsfrist ist ja nicht starr, sondern ein flexibles Stufenmodell. Wir haben immer gesagt, dass wir ab Beitritt zunächst die erste Stufe, die zwei Jahre umfasst, in Anspruch nehmen werden. Dann werden wir die Lage auf dem Arbeitsmarkt bei uns prüfen und entscheiden, ob wir die nächste Stufe von drei Jahren ebenfalls benötigen.
HN: Herr Franco Frattini, der Vizepräsident der Europäischen Kommission, hat vor kurzem gesagt, die neuen EU-Staaten sollten schon im Oktober 2007 dem Schengen-Raum beitreten. Halten Sie es nicht für zu früh? Die neuen EU-Mitgliedsstaaten sind ja längst Mitglied im Schengen-Raum. Nur: Solange sie noch nicht alle Verpflichtungen erfüllen, die sich daraus ergeben, können die Personenkontrollen an den Binnengrenzen zu den alten EU-Mitgliedstaaten nicht aufgehoben werden. Vor allem geht es darum, die neuen Außengrenzen der Europäischen Union zu sichern, und es geht um die Teilnahme der neuen EU-Mitgliedstaaten an dem Schengener Fahndungssystem der zweiten Generation. Nach den derzeitigen Planungen der Europäischen Union ist es in der Tat so, dass die Bewertungen der neuen EU-Mitgliedstaaten zur vollständigen Umsetzung der Sicherheitsmaßnahmen bereits im Jahr 2007 vollständig abgeschlossen werden sollen. Ob dieser Termin gehalten werden kann, hängt zu einem wesentlichen Teil von den neuen EU-Mitgliedstaaten selbst ab.
HN: Vor einem Jahr bewegte Europa die EU-Osterweiterung, heute ist es die Europäische Verfassung. Sie, Herr Bundeskanzler, sind als ein großer Befürworter des europäischen Verfassungsvertrages bekannt. Sagen Sie bitte – warum brauchen wir eigentlich ein solches Dokument? Jedes EU-Land hat doch eine eigene nationale Verfassung… Mit der Verfassung schaffen wir die Voraussetzung dafür, dass das größer gewordene Europa handlungsfähiger, demokratischer und für jeden verständlicher wird: Die Charta der Grundrechte wird rechtsverbindlich, die Entscheidungsverfahren werden vereinfacht, die Zuständigkeiten zwischen nationaler und europäischer Ebene werden abgegrenzt, und besonders durch die Einführung eines Europäischen Außenministers können wir Europas Stimme in der Welt stärken. Europäische Einigung und nationale Eigenständigkeit sind zwei Seiten einer Medaille: Ein demokratisches und leistungsfähiges Europa ist die beste Gewähr dafür, dass wir unsere nationalen Besonderheiten auch im Zeitalter der Globalisierung bewahren können. Das wird ausgedrückt durch die Devise der Europäischen Verfassung "In Vielfalt geeint". Schriftinterview von Bundeskanzler Schröder für die
tschechische Tageszeitung Hospodáøské noviny | ||||
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